Volltext: Studien zur Blinden-Psychologie, Fortsetzung (11)

Studien zur Blinden-Psychologie. 
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Auffassung räumlicher Verhältnisse nicht verhelfen können. That- 
sächlich ist bei keinem einzigen Blinden die ausschließliche Ver¬ 
wendung dieser Tastart zu constatiren, selbst nicht bei jenen, welche 
auf einer tiefen Stufe der Tastentwicklung stehen geblieben sind. 
Wir wenden uns demnach im Folgenden der Betrachtung jenes 
Tastverfahrens zu, das allein die Entwicklung präciser Raumvor¬ 
stellungen ermöglichen kann. Hierbei müssen wir, wie schon früher 
erwähnt, von der innerhalb des engeren Tastraumes anwendbaren 
Tastart ausgehen, welche einen unverkennbaren Hinweis auf die 
Bedeutung des Zusammenwirkens von synthetischem und analysi- 
rendem Tasten enthält. Nicht ein Tastfinger allein kommt hierbei 
in Anwendung, sondern stets werden beim Betasten zwei Finger in 
Anspruch genommen. Das Messinstrument wird innerhalb des 
engeren Tastraumes gebildet durch das Entgegenstellen des Daumens 
und Zeigefingers, welch’ letzterem häufig der Mittelfinger assistirt. 
Der zu betastende Gegenstand wird an zwei entgegengesetzten 
Stellen erfasst, und nun gleiten die beiden Finger über die ent¬ 
gegengesetzten Conturen hinweg, wobei die Entfernung der Finger 
im Vergleich zu ihrer Anfangslage ein Maß abgibt für die Verlaufs¬ 
richtung der Begrenzungslinien. Ist eine Aenderung der ersten 
Entfernung nicht erforderlich, behalten die Finger während der 
Bewegung ihre Lage bei, so laufen die Begrenzungslinien einander 
parallel; entfernen sich die Finger, so ergibt sich eine Divergenz, 
nähern sich dieselben, so ergibt sich eine Convergenz der Begrenzungs¬ 
linien. Auf diese Weise erfolgt aber keine absolute Auffassung der 
Bewegungen, sondern stets wird die Bewegung des einen in Relation 
gesetzt zu der Bewegung des anderen Fingers. Bei dieser Beurtheilung 
kommt dem Blinden das genaue Bewusstsein von der jeweiligen Lage 
seiner Tastfinger vorzüglich zu statten; eine große Anzahl Blinder 
besitzt in diesem Convergenzmechanismus einen wunderbar feinen 
absoluten Größenmaßstab. Ich habe mich in der Wiener Blindenanstalt 
(Hohe Warte) überzeugt, dass die Blinden auf diese Weise Entfer¬ 
nungen auf Millimeter genau zu schätzen im Stande sind. Die größte 
Unterschiedsempfindlichkeit herrscht bei möglichster Nähe der beiden 
Tastfinger. So sind viele Blinde im Stande, die wechselnde Dicke 
von Papiersorten zu unterscheiden, die nur mit Hülfe subtilster 
Maßverfahren für gewöhnlich festgestellt werden könnte, wobei die 
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