Studien zur Blinden-Psychologie.
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Auffassung räumlicher Verhältnisse nicht verhelfen können. That-
sächlich ist bei keinem einzigen Blinden die ausschließliche Ver¬
wendung dieser Tastart zu constatiren, selbst nicht bei jenen, welche
auf einer tiefen Stufe der Tastentwicklung stehen geblieben sind.
Wir wenden uns demnach im Folgenden der Betrachtung jenes
Tastverfahrens zu, das allein die Entwicklung präciser Raumvor¬
stellungen ermöglichen kann. Hierbei müssen wir, wie schon früher
erwähnt, von der innerhalb des engeren Tastraumes anwendbaren
Tastart ausgehen, welche einen unverkennbaren Hinweis auf die
Bedeutung des Zusammenwirkens von synthetischem und analysi-
rendem Tasten enthält. Nicht ein Tastfinger allein kommt hierbei
in Anwendung, sondern stets werden beim Betasten zwei Finger in
Anspruch genommen. Das Messinstrument wird innerhalb des
engeren Tastraumes gebildet durch das Entgegenstellen des Daumens
und Zeigefingers, welch’ letzterem häufig der Mittelfinger assistirt.
Der zu betastende Gegenstand wird an zwei entgegengesetzten
Stellen erfasst, und nun gleiten die beiden Finger über die ent¬
gegengesetzten Conturen hinweg, wobei die Entfernung der Finger
im Vergleich zu ihrer Anfangslage ein Maß abgibt für die Verlaufs¬
richtung der Begrenzungslinien. Ist eine Aenderung der ersten
Entfernung nicht erforderlich, behalten die Finger während der
Bewegung ihre Lage bei, so laufen die Begrenzungslinien einander
parallel; entfernen sich die Finger, so ergibt sich eine Divergenz,
nähern sich dieselben, so ergibt sich eine Convergenz der Begrenzungs¬
linien. Auf diese Weise erfolgt aber keine absolute Auffassung der
Bewegungen, sondern stets wird die Bewegung des einen in Relation
gesetzt zu der Bewegung des anderen Fingers. Bei dieser Beurtheilung
kommt dem Blinden das genaue Bewusstsein von der jeweiligen Lage
seiner Tastfinger vorzüglich zu statten; eine große Anzahl Blinder
besitzt in diesem Convergenzmechanismus einen wunderbar feinen
absoluten Größenmaßstab. Ich habe mich in der Wiener Blindenanstalt
(Hohe Warte) überzeugt, dass die Blinden auf diese Weise Entfer¬
nungen auf Millimeter genau zu schätzen im Stande sind. Die größte
Unterschiedsempfindlichkeit herrscht bei möglichster Nähe der beiden
Tastfinger. So sind viele Blinde im Stande, die wechselnde Dicke
von Papiersorten zu unterscheiden, die nur mit Hülfe subtilster
Maßverfahren für gewöhnlich festgestellt werden könnte, wobei die
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