Studien zur Bliuden-Psychologie. 235
Ausbildung zeitlicher, keine aber zur Ausbildung räumlicher Be¬
ziehungen gegeben.
Wenn auf diese Weise weder das synthetische noch das anä-
lysirende Tasten für sich allein eine adäquate Raumvorstellung ver¬
mitteln können, so ergibt sich eine solche in vollkommen befrie¬
digender Weise dort, wo beide Componenten ihre Selbständigkeit
aufgebend zu einem neuen Producte verschmelzen, das die Eigen¬
schaften seiner Bestandtheile in sich vereinigt. Dieser Act psychischer
Synthese erscheint aber dadurch gekennzeichnet, dass ein Element
derselben die Vorherrschaft gewinnt vor den anderen, die nur als
modificirende Bedingungen des ersteren auftreten1). Als solche
sind nun offenbar bei dieser extensiven Verschmelzung die analy-
sirenden Tastbewegungen anzusehen, welche hauptsächlich dem Zweck
zu dienen scheinen, das schematische Gesammtbild, welches das
synthetische Tasten ergibt, dadurch zu verdeutlichen, dass sie das
Object nach allen Dimensionen des Raumes abmessen. Nur dort
ist eine präcise Raumvorstellung möglich, wo der Blinde im Stande
ist, diese psychische Synthese zu vollziehen. Da wir zunächst jenen
Fällen unsere Betrachtung zuwenden wollen, in denen der Blinde
eine adäquate Raumanschauung zu entwickeln vermag, so entspringt
die Unterscheidung des synthetischen und analysirenden Tastens
lediglich unserer Abstraction, und beide Tastarten gehen in der
Wirklichkeit durch eine große Anzahl von Mittelstufen ineinander
über.
1. Das synthetische Tasten.
Den Druckempfindungen kommt je nach den Orten, an denen
die Reizung erfolgt, eine verschiedene locale Färbung zu, welche aller
räumlichen Unterscheidung zu Grunde liegt. Die Abstufung dieser
qualitativ verschiedenen Empfindungen erfolgt an verschiedenen
Hautstellen mit ungleicher Geschwindigkeit, am raschesten an den
beweglichsten Theilen, sehr langsam an jenen, welche einer freien
Beweglichkeit entbehren. Die Hautstellen, an welchen eine räum¬
liche Scheidung der Eindrücke nicht erfolgt, bezeichnet man seit
1) Wundt, Physiologische Psychologie II (4. Aufl.) S. 438.