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Eduard Sievers.
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treffen wir ein Hinaufziehen nach dem Brustkorb zu; bei V und VI
eine starke seitliche Ausweitung des Brustkorbs, die bei V mit einem
Muskelzug von hinten nach vorn (etwa von den Schulterblättern oder
den mittleren Nackenpartien ausgehend) verbunden ist, bei VI mit
einem Muskelzug in umgekehrter Richtung. Typus I—IV sind, wie
Sie wissen, von Rutz selbst bestimmt, V und VI von mir hinzu-
gefügt.
Von Nebenarten fand Rutz ferner noch folgende:
1. Den Gegensatz von großem und kleinem Ton, der sich
nicht sowohl auf die Qualität als auf das «Volumen» der Stimme
und ihre Tragfähigkeit erstreckt (und ja nicht mit dem Gegen¬
satz von Forte und Piano zu verwechseln ist: man kann auch
pianissimo mit großem Ton singen und sprechen, und fortissimo mit
kleinem Ton). Der große Ton ist an die Spannung des Epigastriums
gebunden (d. h. des Muskels, der die sog. Magengrube, unterhalb
des Brustbeins, deckt), der kleine Ton setzt Nichtspannung bzw. Er¬
schlaffung dieses Muskels voraus. Man kann sich das leicht durch
Betastung der Magengrube kontrollieren (man vergleiche etwa groß-
toniges Mit dem Pfeil dem Bogen [oben S. 90] mit kleintonigem Will
sich Hektor ewig von mir wenden [ebenda]).
2. Den Gegensatz zwischen warm und kalt. Diese Ausdrücke
beziehen sich darauf, daß die Stimme im ersteren Fall 'wärmere5
Anteilnahme, im zweiten 'kühlere5 Stimmung-zu verraten scheint.
Die begleitenden Muskelaktionen sind verschiedener Art. Als Gro߬
beispiel für kalten Ton kann etwa Schillers Teil dienen, als Beispiel
für warmen Ton dessen Jungfrau von Orleans.
3. Die besondere Art des ausgeprägten Tones (Gegen¬
satz: schlicht), hervorgebracht durch Einziehen bzw. Vor Wölbung
eines bestimmten Punktes etwa in der Nabelgegend. Die ausgeprägte
Stimme hat einen etwas schärferen, sozusagen pointierten Klang.
Beispiele finden sich z. B. bei Wolfram von Eschenbach im Titurel
und den meisten seiner Lieder, neuerdings z. B. bei Bierbaum und
Grisebach.
4. Daneben wollte endlich Rutz noch einen weiteren wichtigen
Gegensatz beobachtet haben, den er mit lyrisch und dramatisch
bezeichnet; der besondere dramatische Klang soll mit gewissen
Muskelspannungen im Rücken (etwa in der Kreuzgegend) Zusammen¬
gehen. Ich halte das für falsch. Ich kenne zwar die gemeinten
Aktionen der Rückenmuskeln sehr wohl und habe sie oft genug be¬
obachten können; sie treten aber meines Wissens nie bei wirklicher