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zuteilen, zur Ergründung des Welträtsels beizutragen, den Men-’
sehen einen Spiegel vorzuhalten, wie sie sein und wie sie nicht
sein sollten. Man weist auf Dürer und Menzel, auf Goya, Klinger,
Rops u. a. hin.
Nun ist es ja richtig, dass wenn ein Maler einmal die Ab¬
sicht hat, durch den Inhalt seiner Kompositionen auf die Menschen
zu wirken, er sich besonders gern des Stichels oder der Nadel
bedienen wird, weil seine Gedanken durch sie eine weitere Ver¬
breitung finden können. Aber dass die graphische Kunst ihrer
Natur nach zu einer gedankenhaften Auffassung hindränge, ist
nicht richtig. Sie erreicht allerdings wegen ihrer Farblosigkeit nicht
dieselbe Naturwahrheit wie die Malerei, aber darum strebt sie doch
nach Illusion, wenn auch unter Anerkennung einer grösseren Zahl
illusionsstörender Momente. Und es giebt unzählige Kupferstecher
und Radierer, deren Werk sich inhaltlich kaum von der Malerei
ihrer Zeit unterscheidet. Man denke z. B. an Schongauer und
Dürer. Schongauer hat dieselben biblischen Szenen und Heiligen
gestochen, die auch von der Malerei des 15. Jahrhunderts dar¬
gestellt worden sind. Und von Dürer weichen nur einige Stiche
der Jugendzeit und die drei bekannten Blätter Ritter, Tod und
Teufel, Melancholie und Hieronymus im Gehäus inhaltlich von
dem ab, was in der Kunst des 16. Jahrhunderts gäng und gäbe
war. Und auch in Bezug auf diese Blätter hat die neuere Forschung
nachgewiesen, dass sie an gewohnte Gedankenkreise anknüpfen,
inhaltlich gar nichts völlig Neues bieten. Böten sie es aber auch, so
würden doch gerade sie lehren, dass auf diesem originellen Inhalt
der Genuss, den sie gewähren, nicht beruhen kann. Denn sie
sind jahrhundertelang bewundert und hochgeschätzt worden, ohne
dass man ihren Inhalt oder wenigstens ihren tieferen Sinn ver¬
standen hätte. Bildet man sich wirklich ein, das Blatt Ritter, Tod
und Teufel könne künstlerisch nur dann genossen werden, wenn
man wisse, dass der Geharnischte der Ritter Christi ist, den Erasmus
als miles Christianus verherrlicht hat? Für den Kunsthistoriker
ist die Ermittelung dieser Thatsache natürlich von grossem Wert,
schon aus kulturhistorischen Gründen. Für den Ästhetiker ist
höchstens das Allgemeinmenschliche, in diesem Falle also z. B. die
Furchtlosigkeit und Stetigkeit des Ritters der geheimnisvolle Cha¬
rakter der Szenerie dasjenige Element des Inhalts, das er im Be¬
wusstsein haben muss, wenn er das Blatt ästhetisch geniessen will.
Und bildet man sich wirklich ein, es käme für den ästhetischen