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uns erst künstlich, mit einer gewissen Verleugnung unseres wirk¬
lichen Gefühls versetzen müssen.
Somit bleiben nur noch die beiden Künste, auf die man sich
immer in erster Linie zu berufen pflegt, wenn man vom Inhalt
der Kunst spricht, nämlich die Malerei und die Poesie. Von diesen
hat besonders die letztere den Inhaltsästhetikern von jeher das
Hauptmaterial für ihre Beweise geliefert. Waren sie doch in der
bildenden Kunst meistens wenig bewandert, da ihnen die Fülle der
Anschauung fehlte, die man haben muss, um ihr Wesen voll¬
kommen zu verstehen. Und was die Malerei betrifft, so kannten
sie eigentlich nur die monumentale religiöse oder historisch-mytho¬
logische oder allegorische Malerei der italienischen Renaissance,
die gedankenhaft reflektierende Kunst eines Cornelius und Over¬
beck, die Historienmalerei eines Lessing und Delaroche, endlich das
novellistisch-anekdotenhafte Genre, das um die Mitte des 19. Jahr¬
hunderts Mode geworden war.
Hierdurch war ihre Auffassung der Malerei in eine einseitige
Richtung gelenkt. Sie kannten diese Kunst nur als eine Darstellung
grosser erhabener Gedanken, schwieriger tiefsinniger Spekulationen,
interessanter witziger Anekdoten. Das ist sie aber nicht, und wir
müssen uns den Umschwung, der seitdem mit der Malerei vor
sich gegangen ist, vor allem klar zu machen suchen, wenn wir
verstehen wollen, warum die Ästhetik in Bezug auf sie jetzt zu
ganz anderen Resultaten kommen muss.
Dieser Umschwung bezieht sich vor allen Dingen auf den
Inhalt. Einfachheit des Inhalts war seit der Mitte des Jahrhunderts
die Losung. Schon die Landschafter von Fontainebleau waren
darin vorangegangen, indem sie im Gegensatz zu der idealen
heroischen Landschaft italienischen Charakters die heimische Land¬
schaft, die Wälder, Sümpfe und Flussufer ihrer Heimat malten.
Millet hatte dann diese Anspruchslosigkeit des Inhalts auf das figür¬
liche Gebiet übertragen, an die Stelle der historischen Menschen, der
Götter und Heroen einfache Bauern und Bäuerinnen gesetzt. Courbet
und Manet gingen in dieser Richtung noch weiter und kamen
geradezu zu einer brutalen Vernachlässigung des Inhalts, zu einer Be¬
vorzugung verletzender Motive, die anfangs die schärfste Opposition
erregte. Allmählich haben sich aber die Gemüter beruhigt, und
man kann sagen, dass diese Emanzipation der Malerei vom Inhalt
seitdem auf der ganzen Linie gesiegt hat. Es fällt uns heutzutage
nicht ein, bei der Beurteilung eines dieser Meister nach der