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Pathos Schillers, über die Deutschtümelei unserer Romantiker : die
Schlachten der Befreiungskriege wären nie geschlagen worden, wenn
sie nicht durch ihre Poesie die nationalen Instinkte wachgehalten
und über die Zeiten des Verfalls hinaus gerettet hätten. Und man
mag die Lyrik des jungen Deutschlands um 1848 künstlerisch noch
so sehr beanstanden, die Schamröte, die ihre politischen Lieder
denen, die noch einen Funken patriotischen Gefühls in der Brust
hatten, auf die Wangen treiben mussten, hat ebenso viel zur
politischen Einigung beigetragen, wie das Blut, mit dem die Männer
der That zwanzig Jahre später die auseinandergerissenen Glieder
des Volks zu einer Einheit zusammenkitten sollten.
Derartige Wirkungen bleiben freilich der Poesie (und Schau¬
spielkunst) Vorbehalten. Höchstens die Malerei kann noch, wie
das Mittelalter zeigt, in einigen ihrer Gattungen einen ähnlichen
Erfolg haben. Immerhin sind diese Fälle schon viel seltener. Den
übrigen Künsten zumal ist vermöge ihrer Eigenart eine Wirkung
in diesem Sinne gänzlich versagt.
Der geniale Dichter erhält dadurch unter allen Künstlern eine
Sonderstellung, einen höheren über die Kunst hinausgreifenden
Beruf. Man kann zwei Gattungen von Dichtern unterscheiden.
Die ersteren sind diejenigen, die nichts als Dichter, d. h. Künstler
sein wollen, die anderen diejenigen, die etwas vom Erzieher, vom
Seher, vom Propheten an sich haben. Jene begnügen sich dich¬
terisch auszusprechen, was die Welt in ihrer Zeit bewegt oder
was sie selbst von ihrem Treiben für wichtig genug halten, anderen
späteren Geschlechtern mitgeteilt zu werden. Für sie ist die Poesie
ein Spiegel des Lebens, etwa so wie Shakespeare und Leonardo
da Vinci die Kunst auffassten, deren ersterer die Bühne, letzterer
die Bildfläche als einen Spiegel der Wirklichkeit ansah.
Die anderen gehen in ihrer Absicht weiter. Sie wollen nicht
nur Dichter, sondern gleichzeitig Führer ihres Volkes, Wegweiser
in die Zukunft sein. Sie fühlen instinktiv, welche Seite des geistigen
Lebens in ihrem Volke augenblicklich durch die Ungunst der Ver¬
hältnisse zurückgedrängt ist, welche rein menschlichen Gefühle nicht
genügend entwickelt sind, welche Seiten des menschlichen Lebens
zu versumpfen und zu verkümmern drohen. Hier setzen sie den
Hebel ein. Mit mächtiger Stimme rütteln sie ihr Volk aus dem
Schlummer wach, regen sie seine verfallenden Kräfte zu neuem
Leben an, führen sie es den Idealen der echten Menschlichkeit,
der Wahrheit, Freiheit, Keuschheit und Vaterlandsliebe zu.