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das Pflanzliche näher als das Mineralische. Kein Wunder, dass wir
viele Bilder brauchen, durch die das Mineralische ins Pflanzliche, das
Pflanzliche insTierische, dasTierische ins Menschliche übersetzt wird.
Natürlich ist diese Steigerung nur da möglich, wo die Formen
des wahrgenommenen Naturphänomens derart sind, dass sie dazu
Anlass geben. Es muss eine Ähnlichkeit zwischen dem Wahr¬
genommenen und dem Vorgestellten vorhanden sein genau wie
in der Kunst —, wenn eine Beseelung oder allgemein gesagt eine
phantasiemässige Steigerung vorgenommen werden soll. Diese
Ähnlichkeit ist in unserem Falle das senkrechte unvermittelte Auf¬
steigen des Felsens aus der Fläche. Diese Form ist die unmittel¬
bare Ursache der ästhetischen Anschauung, sie repräsentiert also
in diesem Falle das Naturschöne. Die senkrechten Umrisse er¬
innern an die Bewegung des Steigens von unten nach oben oder
an das gerade Aufgerichtetsein, und diese beiden Vorstellungen
erinnern wieder an die Kühnheit. Jede dieser Vorstellungen ist
gesetzmässig, d. h. infolge regelmässiger Erfahrung mit der anderen
verbunden, d. h. es liegen hier die entsprechenden Assoziationen
vor, die die ästhetische Anschauung ermöglichen. Die Assoziation
ist auch hier die Voraussetzung der ästhetischen Anschauung. Die
Verbindung der einzelnen Glieder im Bewusstsein des Hörers muss
so eng sein, dass wenn die Wahrnehmung der Formen erfolgt,
gleichzeitig die ästhetische Vorstellung entsteht, oder sie muss
wenigstens so eng mit ihr verbunden sein, dass der Hörer ihre
Verbindung, wenn der Dichter beide durch das poetische Bild
gleichzeitig erzeugt, sofort empfindet.
Ob freilich alle Menschen beim Anblick eines natürlichen
Felsens ein solches Vorstellungsspiel vollziehen, ist mehr als zweifel¬
haft. Es giebt gewiss viele, die infolge geistiger Schwerfälligkeit
nicht dazu im stände sind. Sie bedürfen, um diese Kombination
scheinbar heterogener Vorstellungen vollziehen zu können, einer
Hilfe. Die Menschen, die ihnen diese Hilfe leisten, nennen wir
Dichter. Sie haben eine grössere geistige Beweglichkeit als die
Masse, ihnen stehen jederzeit zahlreiche Assoziationen zur Ver¬
fügung, um die Dinge so lebendig und anschaulich auszudrücken,
dass die anderen sie sich auch ohne unmittelbare Wahrnehmung
deutlich vorstellen können.
Neben der Steigerung des Wahrgenommenen in der Vor¬
stellung giebt es nun aber auch Fälle, wo der poetische Sprach¬
gebrauch eine Degradation desselben in sich schliesst. Wenn man