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gerade den fehlenden Gegenstand für die Anschauung ersetzen.
Daraus ergiebt sich ganz von selbst eine Neigung aus dem Kopfe
zu zeichnen.
Die zweite Stufe ist dann die des Kopierens. Sie wird vom
Kinde meistens unter Anleitung des Erwachsenen erreicht. Beim
werdenden Künstler dauert sie besonders lange und erhält den
Charakter einer strengen Zucht. Sie hat den Zweck, die Vor¬
stellungen von der Natur durch fortwährende Kontrolle zu ver¬
feinern, zu spezialisieren und zu kräftigen. Dilettanten bleiben
häufig auf dieser Stufe stehen. Künstler schreiten noch zu einer
dritten Stufe fort, nämlich dem Zeichnen aus dem Kopfe auf Grund
dieser gesteigerten und vertieften Naturanschauung.
Jeder Zeichenunterricht hat den Zweck das Gefühl für die
optische Wirkung der Natur zu entwickeln. Eine Anzahl bekannter
Zeichenfehler der Kinder, z. B. das Weglassen wichtiger Dinge
oder das Zeigen von Linien, die in Wirklichkeit nicht sichtbar
sind, da sie durch andere Formen verdeckt werden, beruht auf
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einem Uberwiegen des Wissens über das Sehen. Das Kind zeichnet
thatsächlich nur das, wofür es Interesse hat und wovon es weiss
oder zu wissen glaubt, dass es da ist. Es zeichnet wie man sagen
könnte nicht mit den Augen, sondern mit dem Verstände. Die
Aufgabe des Zeichenunterrichts besteht also eigentlich darin, das
Kind von dieser wenn ich so sagen darf logischen Art des Zeich¬
nens zur optischen überzuführen.
Auch in Bezug auf den Inhalt hat man durch statistische Zu¬
sammenstellungen frei erfundener Zeichnungen manches Interessante
ermittelt. Zunächst dass das Kind durchaus nicht mit den leichten
Dingen anfängt, sondern im Gegenteil die schwersten, nämlich
Menschen und Tiere bevorzugt. Es zeichnet eben am liebsten das,
wofür es sich am meisten interessiert, und was es im Leben am
meisten sieht. Sein Stoffgebiet ist dabei durchaus alltäglich. Phan¬
tastische oder ornamentale Gegenstände liegen ihm ganz fern.
Das Bild muss mit der gewohnten Natur übereinstimmen, wenn
es genossen werden soll. Dagegen spricht es nicht, dass zuweilen
auch Märchen illustriert werden. Denn die Märchenwelt ist dem
Kinde eine gewohnte und die Formen, mit denen es dieselbe
illustriert, entlehnt es doch der Natur.
Die Vorliebe für schwierige Gegenstände hat zur Folge, dass
die ersten Versuche unvollkommen ausfallen. Aber der Wert einer
Zeichnung für das Kind besteht nicht in ihrer objektiven Richtigkeit,
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