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stimmte Richtung des Geistes dazu, wenn er dabei von allen sinn¬
lichen Nebenbeziehungen absehen soll. Ein Kunstwerk dagegen
kann man gar nicht anders als in uninteressierter Weise an¬
schauen, weil es gar nicht sinnlich genossen werden kann. So¬
bald sich der Mensch überhaupt entschliesst, die Natur im Bilde
darzustellen, sind auch die Bedingungen für die uninteressierte Be¬
trachtung dieser Darstellung gegeben. Da er nun schon auf der
primitiven Stufe seiner Entwickelung die Kunst kennt, aber erst
auf höherer Kulturstufe die uninteressierte Anschauung der Natur
ausgebildet hat, so ist es klar, dass er früher zur uninteressierten
Anschauung der Kunst gekommen sein muss als zu der der Natur.
So seltsam es auch klingen mag, da ja die Natur das Primäre, die
Kunst das Sekundäre ist, es kann doch kein Zweifel bestehen, dass
diese ganze Art der Anschauung sich zuerst der Kunst gegenüber
ausgebildet hat und erst von dieser auf die Natur übertragen
worden ist. Die ästhetische Anschauung der Natur ist also im
Grunde nichts anderes als Kunstanschauung. Was dabei den Genuss
ausmacht, ist gar nicht die Natur, sondern die Kunst, an die man
dabei denkt. Oder besser gesagt, es ist weder die Kunst noch die
Natur allein, sondern das Verhältnis beider zu einander, das Hin-
undheroszillieren des Bewusstseins zwischen beiden.
So gewinnt also die Illusionsästhetik, nachdem sie zuerst den
Naturgenuss vom Kunstgenuss prinzipiell getrennt hat, doch wieder,
indem sie alles Nichtästhetische aus dem Naturgenuss eliminiert,
die Möglichkeit, den letzteren mit dem erster en unter einen Ge¬
sichtspunkt zu bringen — die letzte und wie ich glaube über¬
zeugendste Probe auf die Richtigkeit der Illusionstheorie. Wir
haben uns eben gewöhnt, vom Naturgenuss nur das als ästhetisch
zu bezeichnen, was mit dem Kunstgenuss — sowohl in negativer
als auch in positiver Beziehung — übereinstimmt.
Im Grunde ist also die Naturschönheit gar nichts anderes als
Kunstschönheit, gewissermassen eine umgedrehte Kunstschönheit.
Denn die Natur ist in diesem Sinne nur schön mit Beziehung
auf die Kunst, ihre Schönheit also nur eine besondere Art von
Kunstschönheit, eine besonders gewendete Kunstschönheit. Und
ebenso wie das Kunstschöne nichts ein für allemal Feststehendes
ist, sondern das was unter Voraussetzung einer bestimmten psy¬
chischen Disposition Illusion erzeugt, ebenso ist auch das Natur¬
schöne nichts ein für allemal Feststehendes, sondern etwas, was
in Bezug auf die Kunst, auf eine bestimmte Kunst schön ist, weil