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verlangt im Bilde durchaus nicht formale Schönheit oder kon¬
ventionelle Glätte, sondern scharfe und deutliche Charakteristik.
Das zeigt z. B. die Beliebtheit der Meggendorferschen Bilderbücher,
die doch stark karikiert, überdies inhaltlich ziemlich wertlos sind.
Auch die Leidenschaft für das Bilderbuch entspringt einem
instinktiven Triebe, nämlich dem nach Anschauung und Kenntnis
des Lebens. Gerade das Kind hat bei der Beschränktheit seiner
Existenz ein ausgesprochenes Bedürfnis danach. Und unser modernes
Kulturleben mit seinen beengenden Formen kann dieses nur noch
steigern. Eine vor kurzem in den Berliner Volksschulen angestellte
Umfrage hat ergeben, dass 53% der Schüler noch keine Schnecke,
59 noch kein Ährenfeld, 70 noch keinen Sonnenaufgang, 75 keinen
lebenden Hasen, 98°/0 keinen Fluss (ausser der Spree) gesehen hatten!
Man begreift, was unter diesen Umständen das Bilderbuch für das
Kind bedeutet, und dass es Unsinn wäre zu behaupten, sein Inhalt
hätte für den Genuss daran keine Bedeutung. Das Bilderbuch ist
vielmehr inhaltlich geradezu die Ergänzung des lückenhaften kind¬
lichen Daseins. Zahlreiche Anschauungen werden dem Kinde that-
sächlich früher auf diesem Wege als durch das Leben vermittelt.
Aber dies ist ein pädagogischer Gesichtspunkt, der für uns
nicht in erster Linie in Betracht kommt. Ästhetisch sind für das
Kind die Bilder am anregendsten, die sich auf Personen und
Gegenstände seiner Umgebung beziehen, auf das was ihm aus der
täglichen Anschauung bekannt ist. Ihnen gegenüber kann es eine
rein ästhetische Illusion entwickeln, und es ist kein Zweifel, dass
der Mensch die Fähigkeit der bewussten Selbsttäuschung wesentlich
durch das Bilderbuch gewinnt. Denn dadurch wTird zuerst die
Fähigkeit entwickelt in die flächenhafte und unbewegte Darstellung
der Natur den Raum und die Bewegung hineinzusehen.
Interessant ist es, dass man auch auf diesem Gebiete Versuche
gemacht hat, die illusionsstörenden Momente zu beseitigen, eine
wirkliche Täuschung hervorzurufen. Ich meine die sogenannten
Ziehbilderbücher, bei denen einzelne Figuren oder Körperteile durch
Ziehen in Bewegung versetzt werden, oder durch die ein ganzes
Bild in verschiedene Gründe zerlegt wird, derart, dass die einzelnen
Gegenstände im richtigen Verhältnis zueinander im Raume stehen.
Pädagogisch und ästhetisch halte ich sie für verfehlt. Denn das
Kind wird dadurch geradezu an der eigenen produktiven Illusion
verhindert. Hat es überhaupt erst einmal Bilder zu sehen gelernt,
so hat es sich auch an ihre Bewegungslosigkeit und Flächenhaftig-