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die Inhaltsästhetik auseinander. Die Illusionsästhetik behauptet, dass
es nur darauf ankomme, das Traurige, das den Inhalt der Tragödie
bildet, so zu wählen und zu gestalten, dass eine möglichst starke
Illusion erzeugt wird, weil eben durch diese Illusion, d. h. durch
den sie konstituierenden Wechsel zweier Vorstellungsreihen das
Bewusstsein verhindert wird, längere Zeit und intensiv bei dem
unlusterregenden Inhalt zu verweilen. Die Inhaltsästhetik dagegen
behauptet, dass das Traurige in der Form des ethisch Befriedigen¬
den, des Erhabenen oder wenigstens des Erhebenden dargestellt
werden müsse, wenn tragische Lust entstehen solle.
Es würde hier zu weit führen, wenn ich alle Versuche be¬
sprechen wollte, die darauf hinauslaufen, das Tragische als ein
ethisch Befriedigendes zu formulieren. Nur ein paar Richtungen
derselben mögen hier kurz charakterisiert sein. Nach der herrschen¬
den, bis vor kurzem alleinherrschenden Auffassung muss jede
Tragödie einen Helden haben. Dieser Held geht in den meisten
Fällen unter, und zwar nicht ohne weiteres, sondern nach längeren
Leiden und Kämpfen. Er wird in der Regel so geschildert, dass
er entweder ganz oder wenigstens in der Hauptsache unsere Sym¬
pathie erregt. Es kommt aber auch vor — ich erinnere an Richard III.
und Lady Macbeth —, dass er schlechthin als Verbrecher charakteri¬
siert wird. Beide Fälle bieten für die Inhaltsästhetik die grössten
Schwierigkeiten. Der erste, weil es vollkommen unbegreiflich ist,
wie der Untergang einer uns sympathischen Person Lust erregen
kann, der zweite, weil es vollkommen unbegreiflich ist, wie der
Dichter eine unsympathische Person in den Mittelpunkt einer
Dichtung stellen kann. Es ist sehr amüsant zu beobachten, wie
sich die Inhaltsästhetik bemüht hat über diese Schwierigkeiten hin¬
wegzukommen.
Das erste elementarste Mittel dabei war die Theorie der
Schuld. Der Held musste, wenn er auch im allgemeinen sympa¬
thisch war, doch irgend einen Schatten in seinem Charakter, irgend
einen Zug an sich haben, der als Schuld gedeutet werden konnte.
Nun begann das Suchen nach der Schuld. Der Litterarhistoriker
und Ästhetiker hüllte sich in den Talar des Strafrichters und
suchte nach einem wenn auch noch so kleinen Fleckchen auf dem
sonst so reinen Spiegel der Heldenseele. Und er fand es. Das
war in vielen Fällen ganz natürlich. Denn wir sind allzumal
Sünder, und wenn jemand, der an erhabener Stelle steht, von
seinen Feinden oder sonstigen ihm entgegenwirkenden Kräften