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nicht? Von vornherein hätte man weder ein Recht, das eine noch
das andere mit Sicherheit dafür zu erklären.
So muss denn zur Selbstbeobachtung als Kontrolle die Be¬
obachtung anderer hinzutreten. Das Gattungsmässige, das
Allgemeinmenschliche der Kunst kann man natürlich nur ermitteln,
wenn man andere Menschen, eine grössere Zahl von Menschen
um ihre Meinung befragt. Das geschieht, abgesehen von dem
wissenschaftlich wenig verwertbaren Austausch der Meinungen im
Gespräch, jetzt gewöhnlich in der Form des Experiments. Seit¬
dem Fechner zum erstenmal den Versuch gemacht hat, eine grössere
Anzahl von Personen über ästhetische Dinge auszufragen, ihre
Urteile genau zu buchen und daraus einen Durchschnitt, eine Norm
zu ermitteln, haben jüngere Forscher wiederholt denselben Weg
eingeschlagen, um über die Schönheit geometrischer Verhältnisse,
über Farbenzusammenstellungen, Rhythmen und Harmonien ein
allgemeingültiges Urteil zu gewinnen.
Diese Versuche sind, so notwendig es auch war, sie einmal
anzustellen, durchweg als gescheitert zu betrachten. Ihre Re¬
sultate sind schon nach den Aussagen derer, die sie angestellt
haben, von minimaler Bedeutung, und auch dieses Minimum
schrumpft bei genauerem Hinsehen zu einem Nichts zusammen.
Der Grund liegt darin, dass das menschliche Versuchsmaterial, mit
dem sie angestellt wurden, ein ganz beschränktes war, die Er¬
gebnisse folglich nur eine ganz beschränkte Gültigkeit für sich in
Anspruch nehmen konnten. Was hat es für einen Zweck, acht
oder zehn, vielleicht auch hundert und mehr Leute zu fragen,
welches geometrische Verhältnis, welche Farbenzusammenstellung,
welche musikalische Harmonie ihnen am besten gefällt, wenn man
alle anderen nicht fragt? Weiss man denn, dass diese Wenigen,
die ja alle derselben Zeit, demselben Volke, oft auch demselben
Alter und Geschlecht, derselben Bildungsstufe und demselben Be¬
rufe angehören, also natürlich in ganz bestimmter Weise vor¬
eingenommen sind, den Geschmack der Gattung repräsentieren?
Was hat es für einen Zweck, aus ihren Vorzugsurteilen mit dem
Aufwand grössten Scharfsinns und grösster Genauigkeit einen Durch¬
schnitt zu berechnen, wenn man absolut nicht weiss, durch welche
Verhältnisse, welche Gewohnheiten, welche Anschauungen ihr Urteil
und ihr Geschmack gerade diese Richtung erhalten haben kann?
Und dabei sind diese Experimente bisher immer nur in Bezug
auf untergeordnete rein formale Fragen angestellt worden, die,