Volltext: Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen Kunstlehre. Erster Band (1)

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macht, seine Toilette beendigt, den Hausschlüssel einsteckt u. s. w. 
Dabei ist seine Aufmerksamkeit ganz auf die gehörten Worte ge¬ 
richtet, die übrigen Handlungen, die er ja wer weiss wie oft aus¬ 
geführt hat, vollzieht er automatisch, und da sie nicht im Blick¬ 
punkt seines Bewusstseins stehen, vergisst er sie zum Teil. So sagt 
er, auf der Strasse angekommen, er müsse noch einmal herauf, 
weil er seinen Hausschlüssel vergessen habe. Er geht wieder in 
sein Zimmer, findet den Hausschlüssel nicht, greift schliesslich 
in die Tasche und merkt, dass er ihn doch hat, da er ihn vorher 
ganz richtig eingesteckt hatte. 
Das ist ein ganz normaler Fall von Zerstreutheit. Die Auf¬ 
merksamkeit war eben während des Einsteckens des Hausschlüssels 
ganz auf die Erzählung des Freundes gerichtet, deshalb war diese 
automatisch vollzogene Thätigkeit der Aufmerksamkeit entgangen, 
also auch dem Gedächtnis entschwunden. Warum man dabei zwei 
„Bewusstseine“ annehmen müsse, zwischen denen eine geheime 
unbewusste Leitung bestehe, begreife ich nicht. Und noch weniger 
begreife ich, inwiefern diese Zerstreutheit, die ja überdies gar kein 
Lustgefühl, sondern höchstens das Gegenteil zur Folge haben 
könnte, zur Erklärung des Kunstgenusses irgendwie beitragen soll. 
Wir können also aus dieser Vergleichung des künstlerischen 
Schaffens mit den unbewussten und halbbewussten Thätigkeiten nur 
schliessen, dass unsere Auffassung des Kunstgenusses als einer be¬ 
wussten Selbsttäuschung das Richtige trifft. Der ästhetische Zu¬ 
stand, sowohl der rezeptive als auch der produktive ist eine der 
bewusstesten Thätigkeiten, die es giebt. Sein charakteristisches 
Kennzeichen ist geradezu das fortwährende Auf dem qui vive stehen 
aller Gehirnzentren und Nervenkomplexe, das fortwährende ab¬ 
wechselnde Inthätigkeittreten derselben, wodurch die Entstehung 
dauernder Zwangsvorstellungen und längerer einseitiger Vorstellungs¬ 
reihen vermieden wird. Man könnte das Bewusstsein während des 
ästhetischen Genusses etwa mit einerWache vergleichen, vor der 
immer ein Posten unter dem Gewehr steht und eine gesteigerte 
Aufmerksamkeit entfaltet, während die übrige Wachmannschaft 
ruht und sich dadurch für ihre künftige Thätigkeit frisch erhält. 
Übrigens soll nicht geleugnet werden, dass wenn auch die 
Grenzen zwischen psychopathischen und normalen Erscheinungen 
wie z. B. zwischen Halluzinationen und (künstlerischen) Illusionen 
begrifflich genau fixiert werden können, diese Zustände doch in 
der Praxis leicht ineinander übergehen. Ebenso wie die Begriffe
	        
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