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nichts wissen und behaupten vielmehr, dass der normale weibliche
Körper in Bezug auf das Verhältnis von Ober- und Unterkörper
genau mit dem männlichen übereinstimme. Dass es weibliche
Körper giebt, bei denen dies der Fall ist, wird man schwerlich
leugnen können. Aber zahlreiche Messungen an Malermodellen
und nackten Weibern auf den Bildern moderner Maler beweisen,
dass der weibliche Körper durchschnittlich kürzere Beine hat als
der männliche, was sich ja auch entwickelungsgeschichtlich sehr
leicht verstehen lässt. Die entgegengesetzte Behauptung der Ana¬
tomen und Frauenärzte erklärt sich wie ich glaube daraus, dass
sie ihre Normalproportion des weiblichen Körpers gar nicht aus
dem Durchschnitt der Natur, sondern aus dem der Antike und
einer ihr besonders entsprechenden Natur gewonnen haben. Und
die griechischen Bildhauer haben auch beim weiblichen Körper die
Proportionen, die sie in der Natur fanden, unwillkürlich im Sinne
des Jünglingskörpers abgewandelt. Und dies ist wieder für unsere
Vorstellung vom weiblichen Körper entscheidend geworden. Denn
wir bilden uns diese Vorstellung thatsächlich gar nicht aus der
Natur, sondern aus der Kunst, und zwar der antiken Kunst. Daher
kommt es, dass wir den ersten nackten weiblichen Körper, den
wir in der Natur sehen, meistens hässlich finden, woraus sich dann
Theorien wie die vom Schönheitsfehler der Frauen und ihren angeb¬
lichen Bemühungen, ihn durch die Toilette zu verdecken, entwickeln.
Natürlich ist es ästhetisch falsch, eine Frau nur dann schön
proportioniert zu finden, wenn ihre Längenverhältnisse mit denen
des Mannes übereinstimmen. Denn ihre Breitendimensionen stim¬
men ja doch nicht mit ihnen überein und warum gerade ein
Teil der Verhältnisse übereinstimmen soll, ein anderer nicht, lässt
sich schlechterdings nicht absehen. Jedes Geschlecht hat eben die
Dimensionen, die seinen körperlichen Aufgaben am besten ent¬
sprechen. Und wenn die Frauen kürzere Beine haben als die
Männer, so kann man gerade das als sekundäres sexuelles Merkmal
besonders schön finden. Deshalb ist es auch nur zu billigen, dass
moderne Bildhauer wie Klinger sich bei ihren nackten Weibern
gar nicht um die Proportionen der Antike kümmern, sondern ihre
Modelle so darstellen, wie sie ihnen in der Natur entgegentreten.
Da es nun bei der Verschiedenheit der thatsächlich vor¬
kommenden Proportionen und den offenbaren Abweichungen des
Proportionsgeschmacks unmöglich ist, eine Proportion empirisch
als die schönste nachzuweisen, so hat man natürlich die Frage