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sind die Bewegungen und Verkürzungen. Es ist wirklich etwas
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Anmutiges und Überraschendes für das Auge des Beschauers, auf
Leinwand, Marmor oder Holz eine leblose Gestalt zu sehen, die
sich zu bewegen scheint. Die Verkürzungen berühren das Auge
des Beschauers wunderbar, da er oft glaubt, etwas in seiner ganzen
Grösse und wirklichen Proportion vor sich zu sehen, was that-
sächlich kaum die Länge einer Hand hat. Dennoch soll man die
Verkürzungen nicht übertreiben, weil sie sonst leicht gesucht
erscheinen. Je seltener sie Vorkommen, um so überraschender
werden sie wirken. Michelangelo hat sie nach Aretinos Urteil
übertrieben. Immerhin beruht seine Stärke auf der Zeichnung.
Er ist es, der zuerst in diesem Jahrhundert den Malern die schönen
Konturen, die Verkürzungen, das Relief, die Bewegung, kurz alles
das gezeigt hat, was beim vollendeten Studium des Nackten ver¬
langt wird. Auch Dürers Kupferstiche werden sehr gepriesen,
denn sie geben mit unvergleichlicher Zartheit die Weichheit und
Lebhaftigkeit des Natürlichen derart wieder, dass sie nicht gezeichnet,
sondern gemalt, nicht gemalt, sondern lebendig zu sein scheinen.
Wie aber steht es mit dem venezianischen Kolorit? Dieses
hat doch gewiss in erster Linie dekorative Bedeutung? Wir werden
von bestimmten Farbenzusammenstellungen hören, die schön, von
anderen, die nicht schön sind, man wird uns die ornamentale
Bedeutung der Farben recht deutlich zu machen suchen. Nichts
von alledem. Auch das Kolorit steht im Dienste der Illusion.
Die antiken Täuschungsanekdoten von Zeuxis, Parrhasios, Proto-
genes u. s. w. zeigen die grosse Mühe, die sich die Alten mit dem
Kolorit gaben, „auf dass ihre Bilder der Wahrheit möglichst
nahe kämen. Das Kolorit ist in der That von grösster Wichtigkeit,
weil, wenn der Maler die Tinten, das Weiche der Fleischtöne
und die Eigenart der verschiedenen Nebendinge koloristisch richtig
wiedergiebt, wie sie in Wirklichkeit sind, seine Gestalten wie
lebendig erscheinen, als wenn ihnen nur der Atem fehlte.“
Das Wichtigste beim Kolorit ist das Verhältnis von Licht und
Schatten und die Verbindung zwischen beiden (also das Helldunkel),
wodurch die Gestalten rund und je nach Bedarf mehr oder weniger
voneinander getrennt erscheinen, da man hauptsächlich verhüten
muss, dass die Figuren bei ihrer Verteilung den Eindruck der
Verwirrung hervorbringen. Dazu dient ja auch die Perspektive,
welche die Verkleinerung der Gegenstände, die sich entfernen oder
fernstehend gedacht werden, darzustellen hat. Besonders aber
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