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müsse. Besonders Vittoria Colonna giebt dem mit Bezug auf
die religiöse Malerei beredten Ausdruck. Bei ihrem Anblick em¬
pfinde man Ehrfurcht und fromme Scheu. Sie erfülle den Trüb¬
gestimmten mit Freudigkeit, dem Sorglosen wie dem Bekümmerten
zeige sie das menschliche Elend. Den Hartherzigen bewege sie
zur Reue, den Weltlichen zur Busse, den Unfrommen und Leicht¬
fertigen zu beschaulichem Sinnen, bisweilen sogar zu Furcht und
Scham u. s. w.
Weniger ausgiebig als der temperamentvolle Hollanda ist der
nüchterne und geschäftsmässige Condivi (1553), der freilich nur
den biographischen Teil seiner Aufzeichnungen über Michelangelo
publiziert hat. Aber wo er einmal ausnahmsweise ein Werk des
Meisters besonders charakterisiert, bezieht sich das Lob immer
auf die Kraft der Illusion. Gott Vater in der Schöpfung der
Blumen und Kräuter an der Decke der Sixtinischen Kapelle ist
mit solcher Kunst ausgeführt, „dass wohin du dich auch wendest,
er dir zu folgen scheint, den ganzen Rücken zeigend bis zu den
Sohlen der Füsse, ein sehr schönes Ding, das uns zeigt, was die
Verkürzung vermag“. Die Menschen in der Sündflut sind so
natürlich und packend gemalt, wie man sie sich bei einem solchen
Ereignis nur vorstellen kann. Von den Propheten ist der wunder¬
barste der Jonas. „Sintemal entsprechend der Form des Gewölbes
und nach der Wirkung der Lichter und Schatten der Rumpf sich
nach hinten verkürzt, und zwar nach jenem Teil des Gewölbes
zu, der dem Auge näher ist, während die Beine, die nach vorn
gerichtet sind, sich auf dem entfernteren Teil des Gewölbes befinden.
Ein erstaunliches Werk, das beweist, was für ein Wissen in diesem
Manne ist, in Betreff der Fähigkeit, die Linien nach den Ver¬
kürzungen und der Perspektive zu ziehen.“ Beim Schlangenwunder
betont er nur die erstaunliche Kraft derer, die sich die Schlangen
vom Leibe wegziehen wollen. Das Gesicht des Moses (in der
Statue) „ist voll Leben und Geist und dazu angethan, zugleich
Liebe und Schrecken einzuflössen, wie es beim wirklichen Moses
der Fall gewesen sein mag“.
Auch B enedetto Varchi in seiner Leichenrede auf Michel¬
angelo (1563) macht ein paar Bemerkungen dieser Art. Der Zeichnung
des Ganymed, die Michelangelo seinem Freunde Cavalieri schenkte,
fehle nichts als der Atem, um lebendig zu sein. Bei der Marmor¬
gruppe der Pietà sei die eine Gestalt lebend gedacht, wenn auch
voll Trauer, die andere dagegen tot, und in der That habe die