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annehmen, wo der Inhalt dieser Illusion, d. h. die vor¬
gestellte Körperb ewegung schon an sich angenehm
ist. Daraus geht hervor, dass alle Einfühlungsästhetiker gleich¬
zeitig Inhaltsästhetiker sein müssen, und das ist thatsächlich der
Fall. Nach der Einfühlungsästhetik beruht die Schönheit des myro-
nischen Diskuswerfers — was die Bewegung anbetrifft — durchaus
nicht darauf, dass er als Kunstwerk Eigenschaften hat, die uns
anregen, den bewegungslosen Marmor in einen bewegten mensch¬
lichen Körper zu übersetzen, sondern vielmehr darauf, dass wir
uns selbst bei seiner Anschauung in der angenehmen, elastischen
und erfolgreichen Bewegung des Diskuswurfs vorstellen.
Daraus würde also hervorgehen, dass wir uns nur in an¬
genehme, elastische und erfolgreiche Bewegungen mit ästhetischem
Genuss einleben könnten, in unangenehme, schwierige, mühsame
Bewegungen dagegen nicht. Dies lässt sich nun direkt als falsch
nachweisen. Es giebt eine Menge Bewegungen, die notorisch un¬
angenehm sind und uns doch in der Kunst ästhetischen Genuss
bereiten. Nehmen wir einmal statt des myronischen Diskuswerfers
den Atlas, der die Himmelskugel trägt, oder den sterbenden Fechter,
der unter den Streichen seiner Feinde verblutet, oder Sisyphus,
der den Stein den Berg hinaufwälzt. Oder denken wir an ein
Schlachtenbild oder das Bild einer schweren Arbeit, des Baues der
Pyramiden u. s. w. Hier haben wir es überall mit Bewegungen
zu thun, die an sich unangenehm, schwierig, schmerzlich, ja sogar
tötlich sind. Wenn wir diese Kunstwerke nun doch geniessen
können, so geht daraus wie mir scheint hervor, dass die ästhetische
Anschauung der Bewegung keine subjektive, sondern eine objek¬
tive Bewegungsillusion ist.
Natürlicherweise ändert sich die Sachlage sofort, wenn wir
diese Bewegungen nicht in künstlerischer Darstellung, sondern in
der Natur sehen. Angenommen z. B., wir schauten einem Dach¬
decker zu, der in schwindelnder Höhe auf der Spitze eines Kirch¬
turmes stehend die Stange der Wetterfahne umklammert hält, um
irgend etwas daran auszubessern, so ist das zunächst schon des¬
halb keine Kunstleistung, weil es nicht als Produktion gemeint ist
und einen anderen Zweck als den der Lusterregung hat. Ausserdem
ist aber eine ästhetische Anschauung dieses Vorgangs im Sinne
der objektiven oder subjektiven Bewegungsillusion ganz undenkbar,
weil es sich ja einerseits um eine wirkliche Bewegung handelt,
also eine solche, die wir nicht erst aus der bewegungslosen Stellung