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einen anderen. Er kann sich eben, durch die Illusion, in jede
Rolle hineinversetzen. Und gerade dieses Sichhineinversetzen, dieses
Thunalsob ist das Ausschlaggebende bei seiner wie bei jeder künst¬
lerischen Thätigkeit.
Und was vom Schauspieler gilt, gilt genau ebenso, ja sogar
in noch höherem Grade, vom Zuschauer. Es ist vollkommen über¬
flüssig, dass dieser die Gefühle der Personen, die in dem Stück
Vorkommen, alle selbst mitfühlt. Es genügt vollkommen, wenn
er sie sich vorstellt. Natürlich wird er sich in die Personen, die
ihm sympathisch sind, in höherem Grade einfühlen, d. h. lebhafter
mit ihnen fühlen wie mit den anderen. Aber in voller Stärke
wird er das Gefühl, das der Inhalt voraussetzt, durchaus nicht
in sich erzeugen. Sonst müsste man ja z. B. annehmen, dass
der Zuschauer während der letzten Szene der Maria Stuart, wo
Leicester durch den Fussboden des Zimmers hindurch das Ge¬
räusch der Hinrichtung der Königin hört, genau dieselben Ge¬
fühle hätte wie ein Mensch, der einer wirklichen Hinrichtung bei¬
wohnt. Welcher Art diese sind, wissen wir ja: Ein Gemisch von
Neugier, Grauen, Entsetzen und Mitleid, wie es wohl die rohe
Menge früher hatte, wenn sie zu den öffentlichen Hinrichtungen
strömte. Schiller würde sich wohl schön bedanken, wenn man
ihm die Absicht solche Gefühle zu erzeugen unterlegen wollte.
Nachdem wir hiermit das Wesen des ästhetischen Schein¬
gefühls kennen gelernt haben, können wir uns zur Analyse des
lyrischen Genusses wenden, in Bezug auf dessen Wesen die
sonderbarsten Missverständnisse herrschen. Die Lyrik ist die Kunst
der Gefühls- und Stimmungsillusion. Zwar giebt es Gattungen der¬
selben, die auf Erregung wirklicher Gefühle ausgehen. Dazu gehört
z. B. die Kriegslyrik, die beim Ausbruch eines Krieges zu ent¬
stehen pflegt und im Felde von den Truppen gesungen wird. Sie
geht aus einem unmittelbaren kriegerischen Gefühl hervor und
hat den Zweck, in den Zeiten, wo nicht gekämpft wird, z. B. auf
dem Marsche oder im Quartier, den Kampfinstinkt lebendig zu
erhalten, und dadurch mittelbar den Mut und die Ausdauer der
Soldaten zu steigern. Dazu gehört ferner die Lyrik des Gesang¬
buchs, die von Männern der Kirche aus dem innersten religiösen
Bedürfnis heraus gedichtet ist und dazu dienen soll, die religiösen
Gefühle der Gemeinde zu wecken und zu kräftigen. Dazu kann
man endlich die politische Lyrik rechnen, die meist von freisinniger
Seite, aus demokratischer Gesinnung heraus geschaffen wird und