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Abschnitt C. Capitel XII.
insoweit actuell wird, als das Interesse des Willens sie fordert),
d. h. es wird wiederum in demselben (actuell bezogenen) Sinne
des Worts wie oben Nichts sein. Dies ist auch der Zustand,
auf den allein die Behauptungen der Apostel passen, dass keine
Zeit und keine Erkenntniss mehr sein wird. So lange also die
Welt besteht, ist der Weltprocess, und soviel Seligkeit oder Un¬
seligkeit wie dieser einschliesst; vor dem Entstehen und nach
dem Aufhören der Welt und des Weltprocesses ist — actuell ge¬
nommen — Nichts.
Wo bleibt nun die verheissene Seligkeit? In der Welt soll
und kann sie nicht stecken, und das Nichts nach der Welt
könnte doch höchstens relativ seliger oder unseliger als ein
früherer Zustand sein, aber nicht eine positive Seligkeit oder
Unseligkeit. (Vgl. Aristot. Eth. N. I. 11, 1100, a, 13.) Freilich
wenn die Welt der Zustand der Unseligkeit des Weltwesens ist,
so wird das Nichts im Verhältniss dazu eine Seligkeit sein;
aber leider kann dieser Contrast nur im Zustande des Seins, nicht
in dem des Nichtseins in Rechnung gestellt werden, da in letzte¬
rem weder gedacht noch empfunden wird, — denn jedes von
beiden wäre ja schon Actualität, welche ausgeschlossen ist, —
das eine würde actuelle Vorstellung, das andere sogar actuelle
Reflexion auf eine Erinnerung des früheren innerweltlichen Zu¬
standes im Vergleich zum gegenwärtigen, und Willensbetheiligung
an dieser Reflexion voraussetzen, was Glied für Glied unmög¬
lich ist.
So meint es der Buddhismus mit dem „Nirwana“, so Scho¬
penhauer, aber nicht so das Christenthum. Diesem ist mit einer
solchen Reduction auf den Nullpunct der Empfindung, auf Schmerz¬
losigkeit und Glücklosigkeit ebensowenig gedient, wie dem ge¬
wöhnlichen egoistischen Menschenverstände, der die Erfüllung
seines instinctiven Ringens nach Glück als sein natürliches Recht
in Anspruch nimmt. Das Christenthum giebt zwar ein Recht
auf Glück nicht stricte zu, aber es verlangt den Verzicht darauf
nur, doch um dem unverdienten Gnadengeschenk eines jenseitigen
Glücks einen desto höheren Werth zuzuerkennen, und der einzelne
Christ verzichtet auf sein angebliches Recht doch nur deshalb,
weil er das Object seines Rechtsanspruches durch gütlichen Ver¬
gleich zugesichert erhält. Das Christenthum muss ein positives
Weltziel haben, oder auf sein es vom Buddhismus im tiefsten
Grunde unterscheidendes Princip verzichten, d. h. sich selbst ab-