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Abschnitt C. Capitel XII.
die Existenz der Unsittlichkeit sofort der Unlust das Uebergewicht
zuführen. In einer an sich schon elenden Welt aber wird sie
das Maass des Elends zum Ueberlaufen bringen, um so mehr
als den Menschen kein vom Schicksal aiiferlegtes Leid so bitter
schmerzt, als das, welches seine Mitmenschen ihm auferlegt
haben. Auch in Bezug auf die Schlechtigkeit, Nichtswürdigkeit,
Bosheit und Gemeinheit der Menschen ergeht sich Schopenhauer
in lebhaften Schilderungen, welche kaum übertrieben genannt
werden dürften, und deren Wiederholung ich mich hier überhebe.
Nur Eines will ich hier noch hinzufügen, nämlich, dass der Un¬
verstand der Menschen gar oft dieselbe Wirkung hervorbringt,
wie die Bosheit, indem er die Menschen der Umgebung oft auf
das Bitterste quält, ohne auch nur einen Nutzen oder Genuss
davon zu haben, wie doch die Bosheit offenbar hat.
Wenn aber das Unrechtthun das Leid der Welt vermehrt,
so ist im Gegentheil das Bechtthun keineswegs im Stande, das¬
selbe zu vermindern, denn es ist ja nichts Anderes als die Auf¬
rechterhaltung des status quo vor dem ersten Unrecht, also kein
positives Hinausgehen über den Bauhorizont; Niemand, dem sein
klares Recht geschieht, wird darüber eine Freude haben, es sei
denn, dass ihm die Furcht vor dem Unrecht benommen ist; der¬
jenige aber, der dem Anderen sein Recht widerfahren lässt, hat
doch erst recht keinen Grund zur Lust, denn er hat damit seinem
individuellen Willen Abbruch gethan und doch nicht mehr als
seine Schuldigkeit gethan. Eine wahre Freude kann erst die
Ausübung der positiven Sittlichkeit, der werkthätigen Nächsten¬
liebe gewähren, doch wird sie beim Ausübenden immer mit der
Unlust des Opfers, beim Empfänger mit der Unlust der Beschä¬
mung über die empfangene Wohlthat verbunden sein. Diese
Erhöhung der Lust der Welt durch thätige Nächstenliebe kommt
gegen die Masse Unsittlichkeit gar nicht in Betracht. Jeden¬
falls ist auch die positive Sittlichkeit der werkthätigen Nächsten¬
liebe nur als ein nothwendigesUebel zu betrachten, welches
dazu dienen soll, ein grösseres zu mildern. Es ist weit schlimmer,
dass es Almosenempfänger giebt, als es gut ist, dass es Almosengeber
giebt, und nur der Talmud findet Noth und Armuth in der Ordnung, d a -
mit die Reichen Gelegenheit haben, Liebeswerke zu üben. Jenem
Yerhältniss entsprechend lindern alle Liebeswerke nur die aus der
menschlichen Bedürftigkeit entspringenden grösseren oder kleineren
Leiden. Wäre der Mensch leidenfrei, selbstgenügsam und bedürfnis¬
los wie ein Gott, was brauchte er der Liebeswerke?