Erstes Stadium der Illusion. 4.
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jedem Feinde preisgegeben, weist ihn sein Instinct auf Gemein¬
schaft mit seinesgleichen an. Hier ist es wirklich der gefühlte
Mangel, der das Bedürfniss erzeugt, und die Lust dieser Ge¬
selligkeit ist nur die Aufhebung der Unlust jenes Mangels oder
Bedürfnisses.
Ausser zur Abwehr der Noth und feindlicher Angriffe be¬
fähigt die gesellige Gemeinschaft zweitens auch mehr als die
Einsamkeit zur Erzeugung positiver Leistungen, z. B. zur wirth-
schaftlichen Arbeit, volkswirtschaftlichen oder künstlerischen
Production, zur geschlechtlichen Liebe, zur Vermehrung der Bil¬
dung oder Kenntniss durch Gedankenaustausch, zum Einsammeln
von interessanten Neuigkeiten. Zu alle diesem befähigt die
gesellige Gemeinschaft, aber sie bewirkt es nicht, sie ist eben
nur der Bauhorizont, der sowohl unbenutzt bleiben, als in der
verschiedensten Art und Weise benutzt werden kann. Sie ist
also in diesem Puncte nur die Möglichkeit der Lust, aber nicht
die Lust selbst ; diese fällt vielmehr ganz in die auf diesem Bau¬
horizont zu errichtenden Gebäude, und muss bei diesen, nicht bei
der Geselligkeit betrachtet werden, ja sogar die positive Lust,
welche auf ihrem Grunde errichtet werden kann, lässt sich
grossentheils in unveränderter oder wenig modificirter Weise
auch in der Einsamkeit erlangen.
Dass dagegen die Geselligkeit durch die Rücksichten auf die
Anderen und den Zwang, welche sie dem Einzelnen auferlegt, ganz
reale Unbequemlichkeiten macht, und zeitweise mit verzweiflungs¬
voller Unlust erfüllen kann, beweisen unsere „Gesellschaften“.
Aus der geselligen Gemeinschaft entspringt ein grösseres
gegenseitiges Interesse, d. b. ein gesteigertes Mitgefühl. Würde
in jedem Einzelnen die Summe der Lust die Summe der Unlust
überwiegen, so würde auch in Bezug auf jeden Einzelnen die
Summe der Mitfreude die Summe des Mitleides überwiegen kön¬
nen, wenn nicht die Schwächung der Mitfreude durch den Neid,
welcher auch dem besten Freunde gegenüber unvermeidlich ist,
dies verhinderte. Da aber im Leben des Einzelnen die Summe
der Unlust die Summe der Lust überwiegt, so muss das Mitge¬
fühl für denselben ebenfalls in überwiegender Unlust bestehen,
und dies kann keinenfalls dadurch ausgeglichen werden, dass
man des Mitgefühls für seine eigenen Leiden und Freuden im
Freundesbusen gewiss ist. Freilich strebt man nach Trost, aber
was kann es denn, wenn man es sich recht überlegt, für einen