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Abschnitt C. Capitel XII.
umsieht, so wird man jedoch sehr bald gewahren, dass mit
Ausnahme der physisch-sinnlichen, der ästhetischen und der
wissenschaftlichen Genüsse kaum ein Glück zu gewahren ist,
welches nicht auf der Befreiung von einer vorangegangenen Un¬
lust beruhte, ganz besonders aber wird dies für grosse, lebhafte
Freuden gelten. Voltaire sagt: „ü riest de vrais plaisirs qu’avec
de vrais besoins
Es schliesst sich hieran unmittelbar die interessante Frage
an, ob denn überhaupt die Lust ein aufwiegendes Aequivalent
für den Schmerz sein könne, und welcher Coefficient oder Ex¬
ponent zu einem Grade der Lust gesetzt werden müsse, um einen
gleichen Grad von Schmerz für das Bewusstsein aufzuwiegen.
Schopenhauer stellt unter Anführung des Petrarca’schen Verses;
99Mille piacer non vagliono un tormento (Tausend Genüsse sind
nicht Eine Qual werth)“ die excentrische Behauptung auf, dass
ein Schmerz überhaupt nie und durch keinen Grad von Lust
aufgewogen werden könne, dass also eine Welt, in der über¬
haupt der Schmerz Vorkommen könne, unter allen Umständen
bei noch so überwiegendem Glück schlechter als das Nichts sei.
Diese Ansicht dürfte wohl kaum Unterstützung finden; ob aber
nicht insofern ein richtiger Kern in ihr liegt, als der zur Aequi-
valenz nöthige Coefficient durchaus nicht = 1 zu sein brauche,
wie man gewöhnlich annimmt, das wäre wohl einer Betrachtung
werth. — Wenn ich die Wahl habe, entweder gar nichts zu
hören, oder erst fünf Minuten lang Misstöne und dann fünf Mi¬
nuten lang ein schönes Tonstück zu hören, wenn ich die Wahl
habe, entweder nichts zu riechen, oder erst einen Gestank und
dann einen Wohlgeruch zu riechen, wenn ich die Wahl habe,
entweder nichts zu schmecken, oder erst etwas schlecht Schmecken¬
des und dann etwas Wohlschmeckendes zu kosten, so werde ich
mich auf alle Fälle zu dem Nichts-hören, -riechen und -schmecken
entscheiden, auch dann, wenn die aufeinander folgende gleich¬
artige Unlust- und Lustempfindung mir nach gleichem Grade be¬
messen scheinen, obwohl es freilich sehr schwer sein dürfte, die
Gleichheit des Grades zu constatiren. Hieraus schliesse ich, dass
die Lust dem Grade nach merklich grösser sein muss, als
eine gleichartige Unlust, wenn beide sich für das Bewusstsein so
aufwiegen sollen, dass man ihre Verbindung dem Nullpunct der
Empfindung gleich setzt und sie demselben bei einer kleinen
Erhöhung der Lust oder Erniedrigung der Unlust vorzieht. Wahr-