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Abschnitt C. Capitel XII.
der Negativität des Uebels fanden, haben wir zugleich drei
Momente erfasst, deren jedes zu Gunsten des Schmerzes in
unsere Waagschale fällt, und welche in ihrer Vereinigung prac-
tisch fast dasselbe Resultat geben, wie die Schopenhauer’sche
Theorie; es sind dies 1) die Erregung und Ermüdung der Nerven
und das daraus entspringende Bedürfniss nach dem Aufhören
des Genusses, wie des Schmerzes; 2) die Nothwendigkeit, alle
Lust als indirecte zu berücksichtigen, welche nur durch Auf¬
hören oder Nachlassen einer Unlust, aber nicht durch momentane
Befriedigung eines Willens im Augenblick der Erregung des¬
selben entsteht; 3) die Schwierigkeiten, welche dem Bewusst¬
werden der Willensbefriedigung entgegenstehen, während die
Unlust eo ipso Bewusstsein erzeugt; — wir können hinzufügen:
4) die kurze Dauer der Befriedigung, die wenig mehr als ein
ausklingender Augenblick ist, während die Nichtbefriedigung so
lange, wie der actuelle Wille währt, also, da es kaum einen
Moment giebt, wo nicht ein actueller Wille vorhanden wäre, so
zu sagen, ewig ist, und nur allenfalls limitirt durch die Be¬
friedigung, welche die Hoffnung gewährt.
Dem zweiten Punct müssen wir noch einige Berücksichtigung
schenken. Wenn wir Beispiele solcher Lustempfindungen suchen,
welche nur in einem Aufhören oder Nachlassen der Unlust be¬
stehen, so ist sorgfältig darauf zu achten, dass man nicht solche
Fälle mit hineinzieht, wo die Lust noch durch eine anderweitig
hinzukommende Willensbefriedigung verstärkt wird, wie z. B.
zur Befriedigung des Hungers und Durstes der Wohlgeschmack
der Speisen und die kühlende Erquickung des Trankes, zur
Stillung der Liebessehnsucht der physische Geschlechtsgenuss
hinzukommt. Reine Beispiele sind für das sinnliche Gebiet ein
nachlassender Zahnschmerz, für das geistige die Genesung eines
Freundes aus tödtlicher Krankheit. So wie man solche reine
Beispiele betrachtet, wird kein Mensch mehr zweifelhaft sein,
dass die durch Aufhören der Unlust entstehende Lust sehr viel
geringer ist, als jene Unlust war, gerade wie umgekehrt die
durch Aufhören einer Lust entstehende Unlust weit geringer als
jene Lust ist.
Diese Erscheinung könnte im ersten Augenblick überraschen,
da man die Stärke des Gefühles nur von dem Grade der Aende-
rung, nicht aber von der Lage des Anfangs- oder Endpunctes
der Veränderung zum Indifferenzpuncte der Empfindung als ab-