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Abschnitt C. Capitel XII.
zen) um so schmerzlicher, die Lust um so gleichgültiger und
überdrüssiger, je länger sie dauert.
Hier liegt schon der erste Grund versteckt, warum bei völlig
gleichschwebender Waage für das Maass der directen Lust und
Unlust in der Welt durch die hinzukommende Nervenaffection zu
Gunsten des Schmerzes der Ausschlag gegeben werden würde —
Indem aber ferner durch dieses hinzukommende Bedürfniss des
Nachlassens in Bezug auf jedes andauernde Gefühl die indirecte
(d. h. durch Aufhören einer Lust entstandene) Unlust relativ ver¬
mindert, dagegen die indirecte (d. h. durch Aufhören einer Unlust
entstandene) Lust relativ vermehrt wird, zeigt sich schon a priori,
dass ein verhältnissmässig viel grösserer Theil der Lust, als der
Unlust in der Welt auf eine indirecte Entstehung aus dem
Nachlassen seines Gegentheiles hinweist. Da es nun aber, wie
sich aus dieser ganzen Untersuchung ergeben wird, wahr ist,
dass im Ganzen weit mehr Schmerz, als Lust in der Welt ist, so
ist es kein Wunder, dass in der That durch das Nachlassen
dieses Schmerzes schon der bei Weitem grösste Theil aller Lust,
der man in der Welt begegnet, seine genügende Erklärung findet,
und für directe Entstehung nur wenig Lust mehr übrig bleibt.
Mithin kommt es für die Praxis nahezu auf das heraus,
was Schopenhauer behauptet (nämlich dass die Lust indirecte
Entstehung habe, und der Schmerz directe); dies darf aber
die principielle Auffassung nicht alteriren, denn es ist und
bleibt unbestreitbar, dass es auch Lust giebt, welche nicht durch
Nachlassen eines Schmerzes entsteht, sondern sich positiv über
den Indifferenzpunct der Empfindung erhebt; man denke an die
Genüsse des Wohlgeschmackes und die der Kunst und Wissen¬
schaft, welche letzteren Schopenhauer wohlweislich, weil sie ihm
nicht in seine Theorie der Negativität der Lust passten, hinaus¬
warf und als schmerzlose Freuden des willensfreien Intellectes
behandelte, — als ob der willensfreie Intellect noch ge -
niessen könnte, als ob es eine Lustempfindung geben
könnte, ohne einen Willen, in dessen Befriedigung sie be¬
steht! ’Wenn wir nicht umhin können, den Wohlgeschmack, den
Geschlechtsgenuss rein physisch genommen und abgesehen von
seinen metaphysischen Beziehungen, und die Genüsse der Kunst
und Wissenschaft als Lustempfindungen in Anspruch zu
nehmen, wenn wir zugeben müssen, dass dieselben ohne einen
vorherigen Schmerz, ohne ein vorheriges Sinken unter den In-