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Abschnitt C. Capitel X.
mais darauf aufmerksam zu machen, dass die latenten Hirn-
. dispositionen keineswegs die vollständige und zureichende Ur¬
sache, sondern nur eine der mitwirkenden Bedingungen für die
Bestimmung der in’s Bewusstsein tretenden Vorstellung, be¬
ziehungsweise des Willens zu handeln, sind ; denn sie allein würden
niemals irgend welchen psychischen Effect erzielen, sondern die
Spontaneität des Unbewussten entnimmt nur aus ihnen bestim¬
mende Direction für die Art und Weise seiner Thätigkeitsent-
faltung, an welche es nicht einmal so weit gebunden ist, um sie
nicht nach höheren Zwecken spontan zu modificiren.
Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass der Mensch, selbst
wenn er ohne Individualcharacter geboren wäre,
als Erwachsener einen mehr oder weniger vom typischen Art-
character abweichenden Individualcharacter sich erworben
haben müsste. Wenn dieser Mensch nun aber Kinder zeugt, so
wissen wir, dass nach dem Gesetze der Vererbung die von dem
typischen Menschenhirne abweichenden eigenthümlichen Dispo¬
sitionen seines Hirnes wahrscheinlich auf einige seiner Kinder
mehr oder weniger vollständig übergehen. Dann wird solches
Kind schon mit diesen latenten Dispositionen, welche den Indi¬
vidualcharacter bedingen, geboren, und sobald es in Verhältnisse
tritt, wo diese Dispositionen wirksam werden, kommt sein ange¬
borener Character zum Vorschein. Die Erscheinungen des Rück¬
schlages in väterlicher und mütterlicher Linie, und die Ver¬
mischung solcher von verschiedenen Seiten überkommenen Ei¬
genschaften machen die Untersuchung im einzelnen Falle sehr
schwierig, woher die verschiedenen Eigenschaften eines ange¬
borenen Characters stammen; dennoch ist die unläugbare That-
sache des angeborenen Characters nur so zu erklären. Ob der
erste Mensch einen Individualcharacter gehabt habe, ist eine
ganz müssige Frage : sein Art character war ja sein Individual-
character, da er als das erste Individuum seiner Art dieselbe voll¬
ständig repräsentirte. Nach der im vorigen Capitel entwickel¬
ten Descendenztheorie, wo der Artbegriff etwas Flüssiges ge¬
worden ist, steht ja jedes organische Individuum (also auch der
erste Mensch) in einer organischen Entwickelungsreihe, innerhalb
deren er von seinen unmittelbaren Vorfahren einen ganzen Schatz
characterologischer Eigentümlichkeiten als Erbtheil übernimmt,
den er seinerseits wieder durch die Eindrücke seines Lebens
(bis zur Zeugung) modificirt seinen Nachkommen hinterlässt.