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Abschnitt C. Capitel V.
vergisst, dass wir doch den Stoff so wenig unmittelbar
wahrnehmen, wie die Atome, sondern nur seinen Druck, Stoss,
Schwingungen u. s. w., dass also der Stoff doch auch bloss eine
Hypothese ist, die sich erst vor dem Tribunal der Naturwissen¬
schaft zu rechtfertigen hat, aber eben diese Rechtfertigung
nicht bloss ewig schuldig bleibt, sondern statt dessen bei
jedem in irgend welcher Richtung angestellten Verhöre in Kräfte
verduftet; man vergisst dies, weil man sich dabei zufällig am
Ellbogen stösst, und die instinctive Sinnlichkeit auf einmal
„Stoff** in dies Raisonnement hineinschreit. — Geht man nun
einem solchen Vorurtheil einmal ernstlich zu Leibe, so sucht es
sich mit Sophismen zu behaupten; der Naturforscher vergisst
die Regeln seiner Methode und rückt sogar mit apriorischen
Gründen vor, um nur sein liebes Vorurtheil zu retten.
Da heisst es zunächst: „Ich kann mir keine Kraft ohne
Stoff denken, die Kraft muss ein Substrat haben, an wel¬
chem, und ein Object, auf welches sie wirkt, und eben dies
ist der Stoff; Kraft ohne Stoff ist ein Unding/* — Gehen wir
auch auf die apriorische Seite der Betrachtung ein, nachdem wir
erkannt haben, dass von empirischer Seite die Hypothese eines
Stoffes keine Berechtigung hat.
Zunächst kann man behaupten, dass der Mensch so organisirt
ist, dass er Alles denken kann, was sich nichtwider spricht,
d. h. dass er jede in Worten gegebene Verbindung von Begriffen
vollziehen kann, vorausgesetzt, dass die Bedeutung der Begriffe
ihm klar und präeis gegeben ist, und die verlangte Ver¬
knüpfung keinen Widerspruch enthält. Obige Behaup¬
tung sagt: „Kraft lässt sich nicht in selbstständiger realer Exi¬
stenz, sondern nur in unlöslicher Verbindung mit Stoff denken.“
Kraft ist ein deutlicher Begriff, selbstständige reale Existenz
ebenfalls, also muss jeder gesunde Verstand die Verbindung
beider Begriffe vollziehen können, wenn nicht diese Verbin¬
dung einen Widerspruch in sich trägt. Letzteres zu beweisen,
dürfte wohl schwer fallen, folglich ist der erste negative Theil
der Behauptung falsch. Wohlverstanden handelt es sich hier
nur darum, ob die Verbindung denkbar sei, nicht ob sie real
existire; sonst wäre eben die Betrachtung nicht mehr aprio¬
risch. — Der zweite positive Theil des Satzes behauptet, „dass
Kraft in Verbindung mit Stoff zu denken sei/* Dieser Theil ist
eben so falsch; man kann die Verbindung von Kraft und Stoff