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Abschnitt B. Capitel IX.
sind es, die in der Geschichte der Mystik jene widerlichen Er¬
scheinungen hervorrufen, die wir heute noch in Irrenhäusern be¬
mitleiden, die aber zu ihrer Zeit als Propheten vergöttert und
als Märtyrer verfolgt und getödtet wurden, solche Unglückliche
z. B., die sich für Christus hielten (Esaias Stiefel um 1600) oder
für Gott Vater selbst. Gleichwohl, könnte man sagen, gehen die
Visionen und Ekstasen stufenweise in jene reineren und höheren
Formen über, denen die Geschichte so viel verdankt; gewiss zu¬
gegeben, — nur wird man dies Wandelbare nicht für das Wesen
des Mysticismus ansprechen dürfen. — Als Drittes tritt uns die
Askese entgegen; sie ist ein hirnloser Wahnsinn oder eine krank¬
hafte Wollust, wenn sie nicht als ethisches System gefasst wird,
was aber auch sowohl bei indischen als neupersischen, als christ¬
lichen Büssern stattfindet. Auch hierin liegt an sich keine My¬
stik, da uns einerseits Schopenhauer den Beweis geliefert hat,
dass man ein ganz klarer Denker sein und doch die Askese für
das einzig richtige System halten kann, und da andererseits die
Mystik sich ebensowohl mit der zügellosesten Genusssucht und
Ausschweifung, als mit der strengsten Askese verträgt. Eine
vierte Beihe von Erscheinungen in der Geschichte der Mystik
sind die sich durch alle Zeiten hinziehenden Wunder der Pro¬
pheten, Heiligen und Magier. Das Einzige, was nach mässig
strenger Kritik von diesen Sagen übrig bleibt, reducirt sich auf
Heilwirkungen, die sich theils einfach medicinisch, theils durch
bewusstes oder unbewusstes Magnetisiren, theils durch sympa¬
thetische Wirkung begreifen und in die Reihe der Naturgesetze
einfügen lassen, wenn man eben die magisch-sympathetische
Wirkung durch den blossen Willen als Naturgesetz gelten lässt.
So lange man dies nicht thut, bleibt freilich letzteres an sich
mystisch, sobald man sich aber dazu bequemt, ist es nicht mysti¬
scher als die Wirkung jedes anderen Naturgesetzes, von denen
allen wir keines begreifen, und darum doch keines mystisch
nennen.
Bisher sprachen wir davon, wie Mystiker gehandelt und ge¬
lebt haben, jetzt haben wir noch zu erwähnen, auf welche Art
sie gesprochen und geschrieben haben. Wir begegnen hier zu¬
nächst einer überwiegend bildlichen Ausdrucksweise, die theils
schlicht und einfach, öfter aber schwülstig-bombastisch ist, und
häufig einer phantastischen Ueberschwenglichkeit des Inhaltes
wie der Form. Dies liegt theils an den Nationen und Zeiten?