Das Unbewusste in der geschlechtlichen Liebe.
215
Wahn wird. Es ist daher diese Bemerkung auf jene Thiere ein¬
zuschränken, deren Bewusstsein zu solchen Generalisationen fähig
ist, bei den tiefer stehenden hat es eben bei dem zwingenden
Triebe sein Bewenden, ohne dass es zur Erwartung des Genusses
kommt. — Wie nützlich übrigens auch für die Individuen der
höheren Thierarten jener Wahn ist, sieht man daran, dass gerade
dieser geschlechtliche Wahn das erste und wichtigste Mittel in
der Natur ist, um den Individuen dasjenige Interesse für einander
einzuflössen, welches erforderlich ist, um die Seele in genügen¬
dem Grade für das Mitgefühl empfänglich zu machen. Die Bande
der Ehe und Familie sind daher auch bei Thieren, wie bei rohen
Menschen die ersten Stufen, auf denen der Weg zur bewussten
Freundschaft und zur Sittlichkeit betreten wird, sie sind das erste
Morgenroth aufdämmernder Cultur, schönerer und edlerer Ge¬
fühle und reinerer Opferfreudigkeit.
Man wird vielleicht ein wenden wollen, dass nach der Theorie
der polarischen Ergänzung keine unglückliche Liebe Vorkommen
könne, doch ist dies offenbar ein übereilter und falscher Einwurf.
Denn: wenn A sich in B verliebt, so heisst das: B ist für A
eine geeignete Ergänzung, oder A wird mit B vollkommenere
Kinder zeugen als mit Anderen. Nun braucht aber keineswegs
auch A für B eine geeignete Ergänzung zu sein, sondern B kann
vielleicht mit vielen Anderen vollkommenere Kinder zeugen als
mit A, wenn z. B. A eine ziemlich unvollkommene Darstellung
der Gattungsidee ist ; folglich braucht keineswegs B sich in A zu
verlieben. Nur dann, wenn Beides hochstehende Individuen
sind, wird auch B schwerlich ein Individuum finden, mit dem
es vollkommenere Kinder zeugen könnte als mit A, und dann
werden Beide gleichzeitig von der Leidenschaft ergriffen, dann
sind sie wie die sich wieder findenden Hälften des getheilten
Urmenschen im Platonischen Mythus. Dazu kommt in einem
solchen Falle noch, dass nicht bloss den Kindern diese polarische
Uebereinstimmung zu Gute kommt, sondern in einer anderen
Beziehung, als die Liebesleidenschaft wähnt, auch den Eltern;
weil nämlich auch für die höchste Freundschaft die polarische
Uebereinstimmung der Seelen die günstige Bedingung ist.
Zur Verständigung für Diejenigen, denen das Resultat des
letzten Capitels neu und abstossend erscheinen möchte, mache
ich schliesslich noch einmal darauf aufmerksam : 1) dass, so lange