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Abschnitt B. Capitel IL
bedeutendes Mehr oder Weniger an Waden und Busen mit dem
Geschlechtsgenuss zu schaffen haben. —
Der erste Punct enthält den Grund dafür, dass die geistig
lind körperlich vollkommensten Individuen dem anderen Ge-
schlechte im Allgemeinen genommen am meisten begehrens¬
wert erscheinen; der zweite Punct den Grund dafür, dass die¬
selben Wesen verschiedenen Individuen des anderen Geschlechtes
ganz verschieden begehrenswerth und ganz verschie¬
dene Jedem am begehrenswerthesten erscheinen. Man
kann beide Puncte überall auf die Probe ziehen, und wird sie
in den kleinsten Details bestätigt finden, wenn man nur immer
dasjenige in Abzug bringt, was nicht aus unmittelbarer
instinctiver Geschlechtsneigung, sondern aus anderen verständigen
oder unverständigen Rücksichten des Bewusstseins begehrt und
gewünscht wird. Grosse Männer lieben kleine Frauen und um¬
gekehrt, magere dicke, stumpfnäsige langnäsige, blonde brünette,
geistreiche einfach-naive, wohlverstanden immer nur in geschlecht¬
licher Beziehung, in ästhetischer finden sie meistens nicht ihren
polaren Gegensatz schön, sondern das, was ihnen ähnlich
ist. Auch werden sich viele grosse Weiber aus Eitelkeit sperren,
einen kleinen Mann zu heirathen. Man sieht, dass das geschlecht¬
liche Wohlgefallen auf ganz anderen Voraussetzungen ruht,
als das practische, moralische, ästhetische und gemüthliehe; da¬
durch erklärt sich auch die leidenschaftliche Liebe zu Individuen,
welche der Liebende im Uebrigen nicht umhin kann, zu hassen
und zu verachten. Freilich thut die Leidenschaft in solchen
Fällen alles Mögliche, um das ruhige Urtheil zu verblenden
und zu ihren Gunsten zu stimmen, darum ist es entschieden
richtig, dass es keine geschlechtliche Liebe ohne Blindheit giebt.
Die bei Abnahme der Leidenschaft eintretende Enttäuschung
trägt wesentlich dazu bei, den Umschlag der Liebe in Gleich¬
gültigkeit oder Hass zu verstärken, wie wir sogar letzteren so
häufig im Grunde des Herzens nicht nur bei Liebschaften, son¬
dern auch bei Eheleuten finden. — Die stärksten Leidenschaften
werden bekanntlich nicht durch die schönsten Individuen erweckt,
sondern im Gegentheil häufiger gerade durch hässliche; dies liegt
darin, dass die stärkste Leidenschaft nur in der concentrir-
testen Individualisirung des Geschlechtstriebes besteht,
und diese nur durch den Zusammenstoss polar entgegen-