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Hermann Gutzmann.
Sprachstörung aus einen Affekt sich entwickeln, und von dem depres¬
siven Affekt wieder eine Sprachstörung.
Daß eine derartige affektive Wirkung sogar zur Stummheit führen kann,
habe ich in einem Fähe gesehen, den ich bereits häufiger zitiert habe. Ein Knabe
von sieben Jahren, Sohn reicher Eltern, der an sehr starkem Sigmatismus nasalis
litt, war bis dahin, im Hause unterrichtet, mit anderen Kindern seines Alters
wenig zusammengekommen. Als er eines Tages in eine Kindergesellschaft ein¬
geladen war und die anwesenden Knaben seinen Kehler bemerkten und ihn des¬
wegen verspottet hatten, mußte der Knabe schreiend und weinend nach Hause
gebracht werden. Er verweigerte, die Nahrung zu sich zu nehmen, und blieb
stumm (Aphrasia voluntaria). Bei dem Ärztekonsilium, das zwei Tage nach diesem
Vorfälle zusammengerufen wurde, war auch ich zugegen. Bei der Sachlage war
es ganz klar, daß der Knabe infolge der durch das Nachahmen und Verspotten
hervorgerufenen psychischen Depression stumm geworden war. Als ich ihn bei¬
seite nahm und ihm zeigte, wie er bei aufeinander gesetzten Zähnen und zugehal¬
tener Nase das normale S ohne weiteres hervorbringen könne, fing er fast un¬
mittelbar darauf wieder zu sprechen an, zwar noch mit seinem fehlerhaften, alten,
nasalen S, aber doch mit der festen Zuversicht, daß er das normale leicht werde
lernen können.
Von den peripher-impressiven Sprachstörungen ist die Taub¬
stummheit die bekannteste. Die Ätiologie der Stummheit ist in
diesem Falle klar; es ist die angeborene oder früh erworbene Taub¬
heit resp. hochgradige Schwerhörigkeit. Gerade hier aber können
wir ganz neue Beziehungen der Affekte zu der Sprache kennen
lernen. Das kleine Kind, das in der Taubstummenanstalt die ersten
Worte bekanntlich durch Übung der Artikulation sprechen lernt,
faßt zunächst das Sprechen ganz mechanisch, inhaltslos auf. Es lernt
z. B. die Sprachbewegung „Mama“ zunächst ohne inhaltliche begriff¬
liche Beziehung. Dabei hat natürlich das Kind den Begriff „Mama“
mit Ausnahme der akustischen Teilvorstellungen vollständig. Es
fehlt also jetzt nur noch die Verknüpfung der einzelnen Teilvorstel¬
lungen mit der rein mechanischen Wortbewegungsvorstellung „Mama“.
Durch das Bild einer um den Mittagstisch sitzenden Familie und
das Hindeuten auf die Mutter entstehen mit einem Schlage sämt¬
liche Beziehungen der einzelnen Teilvorstellungen mit der Wort-
bewegungsvorstellung. Diese plötzliche Verknüpfung des Verständ¬
nisses des Kindes für den Wert der Sprechbewegung „Mama“, mit
der es anderen verständlich sofort den ganzen Begriffsinhalt „Mama“
bezeichnen kann, erzeugt einen intensiven Lustaffekt1).
l) Noch elementarer bricht der Lustaffekt hervor bei dem Sprechenlernen
von Taubstumm-Blinden. So erzählt die berühmte taubstumm-blinde Amerikanerin
Hellen Keller, welch freudige Erregung sie hatte, als ihr das Geheimnis der
Sprache offenbar wurde: „Dieses Wort rüttelte meine Seele auf, und sie erwachte