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Hermann Gutzmann.
„Yater der Sprache“. Das Schreien des Kindes ist nach Ablauf
der ersten Wochen sicher der Ausdruck für die zahlreichen Un¬
lustgefühle, die es in den ersten Monaten seines irdischen Daseins
bewegen. Den Alten drängte sich diese affektioneile Beziehung so
stark auf, daß sie sogar meinten, daß das Kind gleich bei seiner
Geburt durch sein Schreien gegen den Eintritt in das irdische
Jammertal protestiere. So nennt der Hegelianer Michelet den
Schrei des Neugeborenen das „Entsetzen des Geistes über das
Unterworfensein unter die Natur“; so meint Kant1), daß das Ge¬
schrei des Neugeborenen nicht den Ton des Jammers, sondern den
der Entrüstung und des aufgebrachten Zornes an sich habe; er
schreie, „nicht weil ihn etwas schmerzt, sondern weil ihn etwas
verdrießt“. Das ist offenbar weitaus antezipiert, da wir das Schreien
gleich nach der Geburt und auch noch in den ersten Wochen im
wesentlichen wohl als einfachen Reflex ohne Beteiligung der korti¬
kalen Zentren ansehen müssen. Ist doch die Schmerzempfindlich¬
keit bei Neugeborenen nach Kußmaul fast gleich Null und bis
zur dritten Woche nach Soltmanns und Westphals Versuchen
so gering, daß sie faradische und galvanische Ströme, die für Er¬
wachsene völlig unerträglich sind, ohne die geringsten Abwehr¬
bewegungen oder Schreien ertragen. Erst mit dem Ende der
siebenten Woche (Mann, Stintzing, Westphal) wird die Erreg¬
barkeit eine wesentlich höhere. Dann zeigen sich aber auch im
Schreien bereits akustische Unterschiede, die der Mutter oder
Wärterin fast untrüglich die Ursache des Schreiens verraten: offen¬
bar die ersten Äußerungen von Unlustaffekten. Sowie dann
später die ersten Greifbewegungen Ausdruck irgend einer lust¬
betonten Empfindung sind, so sind auch die gesamten reflek¬
torischen Lallmonologe des viermonatigen Kindes Ausdrucks¬
bewegungen seiner (primären) Lustgefühle. Andererseits
erzeugt das Hören der eigenen, selbst produzierten Laute beim
Kinde wiederum sekundäre Lustgefühle, die sicher außerordent¬
lich stark sind, so stark, daß das Lallen ab und zu durch ein
fröhliches Kreischen unterbrochen wird. Auch in der Nachahmungs¬
periode ist der Nachahmungstrieb offenbar von starben Lustgefühlen
abhängig; andererseits erzeugt gelungene Nachahmung wiederum
sekundäre Lustaffekte, schlecht gelungene oder gänzlich mi߬
lungene schwere depressive Unlustaffekte. Letztere sind manch-
*) Kant, Anthropologie, 1798, S. 325.