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Über die Beziehungen der Gemütsbewegungen und Gefühle
zu Störungen der Sprache.
Von
Hermann Gutzmann, Berlin.
Alle Ausdrucksbewegungen, als deren vornehmste und diffe¬
renzierteste Art wir die Lautsprache des Menschen ansehen dürfen,
haben schon als solche unlösbare Beziehungen und ursächliche Zu¬
sammenhänge mit Gemütsbewegungen und Gefühlen. Sie drücken
eben — wie ihr Name sagt — unsere Gemütsbewegungen aus,
teilen sie den anderen Menschen mit, gleichviel ob die Mit¬
teilung beabsichtigt war oder nicht. Als ursächlich können
wir die Zusammenhänge bezeichnen, weil Gemütsbewegungen und
Gefühle tatsächlich Ausdrucksbewegungen erzeugen. In diesem
Sinne habe ich seinerzeit den Affekt „Vater der Sprache“ genannt1).
Wenn aber auch sprachliche und andere Ausdrucksbewegungen
von Gemütsbewegungen und Gefühlen kausal bedingt sind, so ist
damit durchaus noch nicht gesagt, daß nun auch Störungen der
ersteren stets von primären Störungen der letzteren kausal abhängen,
von ihnen bedingt sein müssen. Oft ist das freilich der Fall, aber
bei weitem nicht immer; ja, es tritt nicht selten der Fall ein, daß
Störungen der Sprache ihrerseits erst sekundäre Störungen der
Gemütsbewegungen und Gefühle erzeugen. Wir werden deshalb
t zwischen „primären“ und „sekundären“ Gemütsbewegungen und
Gefühlen unterscheiden müssen, wenn wir ihre Beziehungen zu
Störungen der Sprache richtig einschätzen wollen. Diese Unter¬
scheidung wird ein wesentlicher Teil der Aufgabe unseres Themas
sein, vielleicht sogar der wesentlichste, weil die mannigfachen Ex¬
périmenta naturae, als welche wir hier die sprachlich-pathologischen
Erscheinungen ansehen können, dem Experimentalpsychologen auch
für das Gebiet der physiologischen Psychologie lohnende Ergeb¬
nisse in Aussicht stellen.
1) Man vergleiche dazu Meiimanns „emotionelle“ und „evolutioneile“
Wurzel der Sprache, die bez. Ausführungen bei W. und C. Stern u. a. m.