Die zeichnende Konst des Kindes.
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Eigenschaft hängt dann zugleich die weitere zusammen, daß dies
Phantasieleben stets, bald deutlicher, bald dunkler, in die Zukunft
verlegt wird. Selbst ein völlig imaginäres und unmögliches Geschehen
wird doch als ein dereinst einmal eintretendes oder zu erwartendes
vorgestellt. Nie schweift ein solches Phantasieren in die Vergangen¬
heit, oder wo dies geschieht, wie gelegentlich bei der Anregung
durch geschichtliche Erzählungen, da ändert die kindliche Phantasie
die rückwärts gerichtete in eine dem Künftigen zugekehrte Perspek¬
tive um. Diese Eigenschaft steht natürlich damit, daß die Phanta¬
sie durch ihre Gefiihlsprojektionen die Objekte belebt, umschafft
und so aus ihnen macht, was sie zuvor nicht waren, in engster Be¬
ziehung. In dieser Form aber reicht jenes freie Phantasieren in
geregelteren und darum der Beobachtung sich mehr entziehenden
Gestaltungen aus dem Leben des Kindes in das spätere Leben hin¬
über und wird hier zugleich zur Quelle ales praktischen Handelns.
Pläne, Entwürfe, Vorsätze, sie sind Modifikationen der nämlichen
freien Phantasietätigkeit, aus der auch die Werke der Kunst hervor¬
gehen. Wie das Kind im Spiel den Gebilden seiner Phantasie in der
es umgebenden Welt Wirklichkeit und Leben gibt, so strebt über¬
all der Wille, das zu verwirklichen, was zuerst die Phantasie gestaltet
hatte. Aber noch über die Grenzen des praktischen Wollens strebt
diese freie Tätigkeit der Phantasie und mit ihr der Trieb, ihre Ge¬
bilde in Wirklichkeit überzufîihren, hinaus. In der Kunst schafft
sie, was niemals gewesen ist und niemals wirklich werden kann;
und in Mythus und Religion bildet sie sich eine zweite Welt, die
wiederum in der Kunst ihren Ausdruck findet.
3. Die zeichnende Kunst des Kindes.
a. Allgemeine Bedeutung der Kinderzeichnungen.
Die wahre und naturwüchsige Kunst des Kindes ist das Spiel.
Im Spiel pflegt es alle Gattungen der Kunst in jener noch un¬
gestörten Einheit, die überall den Anfängen der Kunst eigen ist.
Es übt Tanz und Gesang, und in den Handlungen des Spiels
greifen Epos und Drama ineinander ein. Nur die bildende Kunst
geht verhältnismäßig leer aus. Denn das Kind kann ihrer entraten,
da ihm die Objekte, deren es zu seinem episch-dramatischen Spiel