Vorwort.
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einem Werk über die Psychologie des Mythus und der Religion
schwerlich von vornherein erwarten wird. Was hat in der Tat die
experimentelle Analyse der individuellen und der kindlichen Phan¬
tasie, oder was hat der Abriß einer psychologischen Entwicklungs¬
geschichte der Kunst mit Mythus und Religion zu tun? Ich denke
zwar, daß der Verlauf der folgenden Untersuchungen diese Frage
zureichend beantworten wird« Zugleich darf ich aber wohl darauf
hinweisen, daß, wie schon in der allgemeinen Einleitung zum ersten
Bande dargelegt wurde, die Gliederung der Völkerpsychologie in
Sprache, Mythus und Sitte nur jeweils mit einem kurzen Worte
die Hauptascheinungen bezeichnen soll, um die sich bestimmte
größere Gruppen völkerpsychologischer Entwicklungen gruppieren.
In diesem Sinne bilden nun Mythus und Rèligion die wesentlich¬
sten Bestandteile einer allgemeinen Psychologie der Phantasie, die
eben darum innerhalb der Individualpsychologie nur in ihren dürf¬
tigsten, zum Teil selbst erst aus den Erscheinungen des Völker¬
bewußtseins ihr Licht empfangenden Anlagen und Anfängen ver¬
folgt werden kann. So ist denn da erste Teil da folgenden
Darstellung von selbst zu dem Versuch einer eingehenden Psycho¬
logie der Phantasie geworden, die diese nacheinander in den drei
Hauptformen da individuellen Bewußtseinsfunktion, der künstleri¬
schen und der mythenbildenden Phantasie zu verfolgen sucht. Je
mehr die Völkerpsychologie heute noch genötigt ist, die Grund¬
lagen allgemeiner Anschauungen selbst erst zu finden, auf denen
vielleicht dereinst einmal das einzelne systematisch geordnet wer¬
den kann, um so mehr wird sie dazu gedrängt, gewissermaßen
von der Peripherie der Erscheinungen auszugehen, um von da aus
allmählich den Quellen ihres Ursprungs, soweit es die eigenen
Mittel und die zur Verfügung stehenden Aufschlüsse da Geschichte
und Völkerkunde alauben, auf die Spur zu kommen.
Leipzig, Herbst 1905.
W. Wundt.