Die konstruktive Mythologie.
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nicht eine Reihe in ihr selbst wirksamer und möglicherweise ver¬
änderlicher Motive, sondern eine ihr von Gott gegebene Bestimmung
ist, die von dem einzelnen Menschen oder von ganzen Zeitaltern
durch eigene Schuld verfehlt, von der Menschheit im ganzen aber
schließlich erreicht werden muß. Das ist, jedesmal nach dem Geist
der Zeit und nach persönlichen Überzeugungen wechselnd, die Ten¬
denz, die ebensogut Giambattista Vicos »neue Wissenschaft von den
Nationen«1) wie Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«,
Herders »Ideen« und, freilich in sehr verblaßter Form, Kants ge¬
schichtsphilosophische’ Aufsätze beherrscht, um schließlich, aus¬
gerüstet mit der in der spekulativen Philosophie des 19. Jahrhunderts
entwickelten schematisierenden Dialektik, auf Fichte, Scheiling, Hegel
und die gesamte, von der Romantik abhängige Spekulation dieser
Zeit überzugehen. Dabei wird dann die in der Geschichtsphilosophie
des 18. Jahrhunderts mit Vorliebe auf die Geschichte übertragene
Idee einer Erziehung allmählich, am ausgesprochensten bei Lessing
und Herder, zunächst in die der Selbsterziehung umgewandelt,
um endlich im 19. Jahrhundert vor allem bei Hegel in die all¬
gemeinere der Selbstentwicklung überzugehen, — eine Idee, die
allerdings lange zuvor schon in dem genialen Entwürfe Vicos, des
Begründers der modernen Geschichtsphilosophie, trotz der willkür¬
lichen Phantastik seines Werkes siegreich sich Bahn bricht. Von
einer psychologischen Motivierung des Geschehens ist dabei nie¬
mals die Rede. Auch die Selbstentwicklung wird als eine rein
logische gedacht, bei der sich die angeblich den Dingen selbst
immanente Logik schließlich doch als eine von außen an sie heran¬
gebrachte begriffliche Stufenordnung herausstellt.
Nun gibt es freilich kaum eine noch so willkürliche Konstruk¬
tion der Geschichte oder geschichtlicher Vorgänge, die nicht an
irgendwelchen Punkten ihres Verlaufs mit den Tatsachen Zusammen¬
treffen oder vielleicht auch einen allgemeineren, mindestens für
gewisse Zusammenhänge bezeichnenden Zug hervorheben mag. In
der Tat kann dies letztere besonders von einem Gedanken aner¬
kannt werden, der zu jeder Zeit, von Augustin bis auf Hegel und
*) Giambattista Vico, Prîncipj di una scienza miova etc. Napoli 1725. Deutsch
von W. E. Weber 1822.