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Die Phantasie in der Kunst.
gilt selbstverständlich von vornherein da, wo mehrtönige Musik¬
instrumente überhaupt nicht existieren. Es gilt aber wohl auch für
die meisten andern Gebiete, wo solche Instrumente zwar zur Aus¬
bildung gelangt sind, jedoch feste Regeln für die Konstruktion der¬
selben fehlen. Die Schilderungen der meist mit Tanz und Instru¬
mentalmusik begleiteten Gesänge solcher Naturvölker sind in der Regel
darin einig, daß dabei der Gesang und die Instrumente nahezu unab¬
hängig nebeneinander hergehen, indem sie sich zwar im Rhythmus,
aber oft nicht im geringsten in der Tonführung nacheinander richten.
Dazu kommt, daß die Instrumente selbst offenbar noch nicht nach
einer einheitlichen Norm abgestimmt und also bei ihrem eigenen
Zusammenklingen von Konsonanz weit entfernt sind. Das gilt selbst
von den musikalisch verhältnismäßig hochbegabten afrikanischen
Rassen, abgesehen von einigen nordafrikanischen Stämmen, bei
denen asiatische Einwirkungen die Musikinstrumente wie den Gesang
beeinflußt haben. So ist es denn auch völlig trügerisch, wenn man
auf Grund der Untersuchung der Musikinstrumente solcher Völker
Aufschlüsse über ihre musikalischen Tonsysteme gewinnen will.
Als festen Besitz haben sie ein solches System im allgemeinen
überhaupt nicht, sondern ihre Melodien sind nur als ein ziemlich
fluktuierendes Erbe ihrer Kultur in den von Mund zu Mund und
von Ohr zu Ohr übertragenen Liedern enthalten, die, ähnlich wie
ihr poetischer Inhalt oder wie die Stoffe der Märchen und Fabeln,
einen sich forterbenden geistigen Besitz bilden, der weder irgend¬
welche Stabilität gewonnen hat, noch vollends zum Gegenstand des
Nachdenkens und planmäßiger Erfindung geworden ist. So beschränkt
sich denn auch unsere Kenntnis dieser primitiven Musik durchaus
auf das, was sich der Aufzeichnung der Liedmelodie von seiten
musikalisch wohlgeübter Beobachter entnehmen läßt. Eine solche
Aufzeichnung nach dem unmittelbaren subjektiven Eindruck oder
gar aus der Erinnerung ist nun freilich ein keineswegs einwandfreies
Verfahren. Denn der Beobachter ist der Gefahr, seine eigenen musi¬
kalischen Assoziationen in die Melodien teilweise hineinzuhören,
natürlich in hohem Grad ausgesetzt. Hier sind sicherlich die objek¬
tiven Methoden der Tonregistrierung berufen, ähnlich wie man dies
bei der Untersuchung der Sprachlaute versucht hat, diese Unsicher¬
heit, soweit sie nicht in der unsteten Beschaffenheit der Melodien