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Die Phantasie in der Knnst.
einstige Wanderungen und Kämpfe der Finnen anklingen* Aber der
ganze Hintergrund des Epos ist mehr ein geographischer und ethno¬
logischer als ein historischer. Einen Schritt näher zum eigentlichen
Epos fuhren schon die Lieder der Kirgisen. Der Held Manas
ist ohne Zweifel ursprünglich eine historische Persönlichkeit. Die
Erinnerungen an die Kriege und Siege der Moslims sind überall zu
spüren. Aber der Stoff selbst besteht ganz aus einer Reihe mytho¬
logischer Märchen. Ein etwas anderes Bild bieten die Lieder der
Russen, in denen die politischen Zustände Südrußlands aus dem
ii. und 12. Jahrhundert bestimmter hervortreten, ohne freilich auch
hier mehr als eine Staffage zu den durchaus dem Gebiet mytho¬
logischer Zaubermärchen angehörenden Erzählungen zu bilden.
Die höchste Stufe endlich nehmen dem epischen Stoff nach die
Markolieder der Serben ein, die doch in ihrer reinen Romanzen¬
form vom eigentlichen Epos am weitesten sich entfernen. Die
Türkenkämpfe des 14. Jahrhunderts, im Mittelpunkt die Schlacht
von Kossowa, in der die Serben ihre Unabhängigkeit verloren,
bilden den Hintergrund dieses Romanzenzyklus. Ihr Held Marko
ist eine historische Persönlichkeit, die freilich in der Geschichte
keine sonderliche Rolle gespielt hat, aber auf die die serbischen
Sänger als auf ihren Nationalhelden alles, was ihnen groß und rüh¬
menswert erschien, gehäuft haben. So trägt diese Gestalt zwar
durchaus noch die Züge eines Märchenhelden; doch diese Züge
sind menschlicher geworden : das Mythologische hat der Helden¬
sage Platz gemacht. Die reinen Wundergeschichten haben sich in
die Wundertaten eines unbesiegbaren Streiters umgewandelt. So
kann man hier deutlich verfolgen, wie die Durchdringung der alten
mythischen Stoffe mit der Erinnerung an geschichtliche Erlebnisse
allmählich die Zauberwirkungen in Heldentaten umwandelt und
den Inhalt mehr und mehr dem heroischen Epos nahebringt In
einzelnen Zauberwirkungen freilich und in der dann und wann
in die Handlung hereinreichenden Spukgestalt eines altheidnischen
Berggeistes sind noch Reste einer vorangegangenen mytholo¬
gischen Stufe zu spüren. Wenn ferner der Held Marko die sonder¬
bare Gewohnheit angenommen hat, jedesmal, wenn er zornig wird,
seinen Wolfspelz auszuziehen und verkehrt wieder anzuziehen, so darf
man wohl vermuten, daß hier die Tierverwaodlung des alten Zauber-