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Die Phantasie in der Konst.
lieh in sprudelnder Improvisation den geläufigen Sagenschatz behan¬
delnden Dichtung, sondern auch die Wirkungen der Kulturatmosphäre,
die den Sänger umgibt, und in der er seine Lieder verträgt, lernen
wir hier verstehen. • Denn diese Wirkungen treten gerade unter
primitiven Verhältnissen, wo sie ebenfalls erst im Werden begriffen
sind, deutlicher hervor. Das Publikum des kirgisischen Sängers steht
überall wesentlich noch auf dem gleichen Niveau der Kultur, und
der Sänger, der die alten bekannten Erzählungen vorträgt, ist daher
willkommen überall. Aber Standesunterschiede fehlen schon hier
nicht, und so schlägt jener einen wesentlich andern Ton an, wenn
er vor seinesgleichen, oder wenn er vor einem angesehenen Häupt¬
ling seine Lieder vorträgt. Ist vollends noch ein russischer Beamter
zur Stelle, so ermangelt er nicht, eine Schmeichelei auf den weißen
Zaren, den großen Freund seines Volkes, einzuflechten. Hier er¬
öffnet sich uns bereits deutlich die Perspektive auf die berufsmäßigen
Aöden der Griechen oder auf die Spielleute des Mittelalters, die
an den Sitzen der Fürsten und Vornehmen ihre Lieder von den
Taten der Vorfahren anstimmten. In dieser Anpassung an den
Kreis von Hörern, dem es vorgetragen wurde, konnte das Epos
allmählich zum wirklichen Heldenlied werden, was es zu Anfang
wohl nur in einem beschränkten Sinne war. Es spiegelt auch jetzt,
auf der Höhe seiner Entwicklung angelangt, die Kultur und den
Geist seiner Zeit keineswegs in ihrer ganzen Weite und Tiefe, son¬
dern es ist ein Bild der Lebensanschauungen jener ritterlichen und
höfischen Kreise, für die es gedichtet ist, und in die sich der Sän¬
ger mit seinem eigenen Denken und Fühlen einlebt, auch wenn er
selbst ihnen nicht angehört. Von dieser Stufe ist freilich das Lied
der Kirgisen so weit wie möglich entfernt. Wie die Gusla, die
landesübliche Gitarre, von jedem aus dem Volke gespielt und, so¬
weit er kann, mit Gesang begleitet wird, so sind die Stoffe dieser
Lieder die alten Märchenstoffe, die auch bei den andern Kirgisen-
und Turkstämmen umlaufen, nur daß sie bei diesen des poetischen
Schwunges und der rhythmischen Form entbehren, die sie bei
jenem sangesfreudigen Steppenvolk angenommen haben.
Nach allem dem eröffnen uns diese Lieder, namentlich wenn
wir noch die weiteren Stufen etwa der großrussischen und der süd¬
slawischen Volkspoesie mit ihren schon einer höheren Kultur an-