Allgemeine Psychologie der bildenden Konst.
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die sie erzeugen, als auslösende Reize wirken, dadurch aber neue
Ideen und damit eine Steigerung ihres künstlerischen Ausdrucks er¬
zeugen. Ein letztes Beispiel dieser fortwährenden schöpferischen
Synthese aus ursprünglich heterogenen Motiven, das sich so durch
alle andern, von der Architektur sich lösenden Formen der Ideal¬
kunst verfolgen läßt, ist uns in der Entwicklung der Malerei begegnet.
Dies Beispiel ist vor allem dadurch wertvoll, daß es uns diese Ver¬
kettung der Erscheinungen mitten im Lichte der Geschichte und
an Tausenden von Zeugnissen mit überzeugender Klarheit vorfuhrt.
Der Drang, die Pemonen und die Ereignisse der religiösen Über¬
lieferung lebensvoll zu gestalten, hat, aus der allgemeinen geistigen
Bewegung der Renaissance entspringend, den dargestellten Szenen
einen landschaftlichen Hintergrund gegeben. Dieser mußte mit
innerer Notwendigkeit zu einer immer mehr sich vervollkommnen¬
den Befolgung der perspektivischen Gesetze fuhren, die wiederum
auf die Naturtreue der menschlichen Gestalten fördernd zurückwirkte.
Je lebensvoller die dargestellte Szene wurde, um so mehr verlangte
sie aber, daß jener landschaftliche Hintergrund ihrer Stimmung sich
anpaßte. Damit war der Schritt getan, der zur Entdeckung des
eigenartigen ästhetischen Wertes der Landschaft und so, indem
diese nun zu einem selbständigen Objekt malerischer Kirnst wurde, zu
einer neuen Kunstform führte.
So ist in allen diesen Entwicklungen jedes folgende Glied eng
an die früheren gebunden. Es ist ein neues Gebilde, aber doch in
allem Vorangegangenen vorbereitet; und nicht selten ist es die
Umwandlung eines anfänglichen Nebeneffekts, der zwar notwendig,
aber nicht direkt gewollt ist, in einen Hauptzweck, wodurch mit
der neuen Form eine neue Idee oder eine Weiterbildung der bis¬
herigen Ideen entsteht.
Wie diese ganze Erscheinungsreihe in ihrem allgemeinen Charak¬
ter durchaus mit der Entwicklung der Gebilde der Zierkunst über¬
einstimmt, so besteht natürlich auch zwischen den elementaren
seelischen Prozessen hier wie dort kein Unterschied. Was in dieser
Beziehung über das Ineinandergreifen der von vorhandenen For¬
men ausgehenden Reize mit von ihnen ausgelösten Assimilationen
und über den bestimmenden Einfluß der in den Apperzeptions¬
prozessen zur Geltung kommenden herrschenden Dispositionen