Die Phantasie in der Konst.
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darstellte, und die sich, dem Evangelium oder der Heiligenlegende
entnommen, in der Regel um eine einzige Hauptperson konzen¬
trierten. Daher denn auch jene Bilder der Frührenaissance, die diesem
Prinzip der Mitte widersprechen, häufig in mehrere Bilder zerfallen, die
aufeinander folgende, zeitlich getrennte Szenen darstellen und schon
deshalb unabhängige Aufmerksamkeitsakte verlangen.
So entstand allem Anscheine nach dieses letzte, wichtigste Ele¬
ment der Linearperspektive, der feste Augenpunkt, als die subjek¬
tive Ergänzung zu dem objektiv gegebenen Hauptpunkt des Bildes,
der seinerseits wieder aus dem Streben nach einheitlichem Ausdruck
einer Idee hervorgegangen war. Denn daß für die Auffassung
der dominierenden Gruppe eine bestimmte Augenstellung die gün¬
stigste sei, mußte sehr bald die einfachste Beobachtung ergeben.
Von da aus lag dann aber auch die Erkenntnis nicht mehr fern,
daß diese Stellung bei allen andern Teilen des Bildes vom Maler wie
vom Beschauer festgehalten werden müsse, wenn diese Teile zu jener
Bildmitte in einem der Wirklichkeit entsprechenden räumlichen Ver¬
hältnis erscheinen sollten.
m. Wandel der Motive in der Malerei.
Für die Entwicklungsgeschichte der künstlerischen Phantasie ist
dieser Kampf um die Gewinnung der Perspektive nicht sowohl an
sich von Bedeutung, als weil sich in ihm wiederum ein allmählicher
Wandel der seelischen Stimmungen spiegelt. Hier kann nur auf die
Hauptmomente dieser Entwicklung hingewiesen werden. In der
Malerei der Renaissance ist der gleiche religiöse Vorstellungskreis
wie in der vorangegangenen christlichen Kunst der vorherrschende.
Aber sie entnimmt die Vorbilder dieser Stoffe dem wirklichen Leben.
Sie gestaltet die Ideale der Frömmigkeit, da* Demut, der religiösen
Erhebung, der Mutterliebe und der Kindesunschuld in allen Formen
und Färbungen, zugleich, wo sich die Gelegenheit bietet, durch ihre
Kontraste gehoben. Aber die Personen und Begebenheiten dieser
idealen Wunderwelt gestaltet sie durchaus nach den Vorbildern der
Wirklichkeit. Damit wird das Streben, diese Phantasiewelt auch in
der sinnlichen Lebendigkeit ihrer räumlichen Ausdehnung, ihres
Lichts und ihrer Farbe nachzubilden, immer mächtiger. Um dem
Bilde die räumliche Tiefe zu geben, fugt da* Maler zu der Gestalt