2Ô4
Die Phantasie in der Kunst.
Diese Bedingungen für die Ausführung einer einzelnen Gestalt,
die mit einem Werke der Architektur in organischem Zusammenhang
plastischen Gruppen im
steht, bleiben
wesentlichen die nämlichen. Nur wird hier die Forderung dringen¬
der, die vordere Hauptebene der Gruppe für die Apperzeption des
Gesamteindrucks so zu gestalten, daß sie die primären Fixations¬
punkte enthält, weil mit der Zahl möglicher Fixierpunkte, die die
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die Gefahr falscher Tiefeneffekte
oder, wenn diese durch sonstige Assoziationsbedingungen femgehalten
Arbeit auf die unmittelbarste Nähe am Gegenstand angewiesen ist, hat aus eigener
Känstlererfahrung heraus Ad. Hildebrand treffend hervorgehoben (Das Problem der
Form in der bildenden Kunst, 4. AufL 1903). Hildebrand hat dabei schon klar die
aus dem Prinzip der Bestimmung der Tiefenvorstellung durch die primäre Fixation
hervorgehenden Bedingungen für die plastische Perspektive erkannt, ohne natürlich
dieses psychophysische Prinzip selbst zu kennen. (Siehe oben S. 26 ff.) In Ermangelung
dessen und wohl auch unter dem Einfluß einseitiger psychologischer Theorien und
Begriffsunterscheidungen ist dann aber dieser ausgezeichnete Künstler dazu verführt
worden, das Wesen der Nahearbeit des Bildhauers ausschließlich in die Bewegungs¬
empfindungen zu verlegen und hierin zugleich den charakteristischen Unterschied von
der Malerei zu sehen, bei der das im Fernblick gewonnene Gesichtsbild auch die
Nahearbeit bestimme, so daß also in diesem Sinne die Malerei eine reine Kunst des
Gesichtssinns sei. In dem stereoskopischen Sehen dagegen sieht H. geradezu eine Art
>unreiner Mischform« (S. 20). Ich kann natürlich.nicht aus eigener Erfahrung über die
Arbeit des Bildhauers urteilen. Aber nach Erfahrungen, die ich nach Erblindung eines
Auges bei andern Arten technischer Nahearbeit gemacht habe, möchte ich glauben,
daß ein Bildhauer, der plötzlich sein stereoskopisches Sehen einbüßt, zunächst
den Meißel in unzähligen Fällen falsch ansetzen, und daß es ihn große Mühe kosten
wird, sich allmählich neu zu orientieren. Wie für das Sehen in der Nähe, so ist
auch für alles Arbeiten mit Nahebildera das binokulare stereoskopische Sehen
gerade so erforderlich wie fUr das normale Gehen die gesnnde Beschaffenheit beider
Beine, und ich kann mir nicht denken, daß sich darin das Arbeiten des Bildhauers
anders verhalten sollte. Die »Bewegungsempfindungen« aber sind nicht bloß, wie
auch Hildebrand anerkannt hat, bei der Durchmessung der Distanzen mit dem Auge,
sondern sie sind in latenterer Weise selbst beim ruhenden Blick in der Form von
Bewegungstendenzen und reproduktiven Empfindungen wirksam. Den Ausdruck, daß
das Fembild ein »reiner Gesichtsemdruek« sei, hat daher mit Recht auch schon
A. Schmarsow beanstandet. (A. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, 1899,
S. 38.) Gerade das Prinzip der perspektivischen Wirkung der primären Fixation
und der Richtung der Fixierlinien weist ja übrigens, da es, wie die pseudoskopi-
schen Erscheinungen zeigen, für das ruhende wie für das bewegte Ange gilt, deut¬
lich darauf hin, daß die Funktion der Bewegung von den Leistungen des Gesichts¬
sinns ebensowenig wie von denen des Tastsinns zu trennen ist. (Vgl. hierzu meine
Grandzüge der physiol. Psychologie,5 H, S. 587, 653 ff.)