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Die Phantasie in der Konst
Säule an verschiedenen Stellen der Erde unabhängig getan worden.
So begegnen uns in den buddhistischen Felsentempeln Indiens
Säulenreihen mit einem anscheinend die Form einer Frucht oder
einer schwellenden Blütenknospe nachahmenden Kapitell; und in¬
dische Siegessäulen verbinden, ähnlich den Prunksäulen persischer
Paläste, das Pflanzen- mit dem Tiermotiv. Doch bei der Leichtig¬
keit, mit der ornamentale Formen, so gut wie Märchen- und Fabel¬
stoffe, wandern können, läßt sich kaum entscheiden, inwieweit diese
indischen Schmuckformen, so sehr sie der Eigenart des indischen
Geistes und seiner Architektur harmonisch sich einfügen, wirklich
autochthonen Ursprungs sind. Nur in Ägypten liegt diese Ent¬
wicklung der die Höfe und Säle der Tempel und Paläste schmücken¬
den Säule zur Pflanzenform klar vor Augen, und sie verrät sich
auch darin als eine ursprüngliche, daß die ägyptische Pflanzensäule
bald in ihrem ganzen Aufbau, bald wenigstens in ihrem oberen Teil
eine deutliche Nachahmung bestimmter Pflanzenformen der ägypti¬
schen Landschaft darstellt. Namentlich Papyrus, Lotos und Palme
sind ihre Vorbilder. Die Papyrus- und Lotossäule erscheinen als
Nachbildungen eines durch horizontale Bandstreifen zusammen¬
geschnürten Bündels dieser Pflanzen, die Palme als Baum, der sich
an seinem oberen Ende in Blattstreifen sondert. Ob jene Bündel¬
säule zunächst aus der Sitte entstanden ist, in dem baumarmen
Lande zusammengebundene Papyrusstäbe an Stelle der Holzbalken
als Pfosten beim ursprünglichen Holzbau zu verwenden, mag hier
dahingestellt bleiben. Schon der Umstand, daß erst der Übergang
zum Steinbau die Form erzeugt hat, spricht aber dafür, daß dies
immerhin nur ein begleitendes Motiv für die besondere Gestaltung
der Säulenform gewesen ist, die ja auch unmittelbar durch das
nachgebildete Objekt nahegelegt werden mochte. Papyrus- und
Lotosstengel ließen sich eben nur zu Bündeln vereinigt als Säulen
denken. Doch daß man überhaupt der Pflanze vor dem die Vor¬
stellungen einer früheren Stufe beherrschenden Tier den Vorzug gab,
dazu mußten noch andere äußere und innere Motive Zusammen¬
wirken, die sich hier, wie so oft, begegneten. Das innere Motiv
lag darin, daß die Pflanzenwelt überhaupt mehr als früher das In¬
teresse fesselte, wie die gleichzeitigen Erzeugnisse der Zierkunst
verraten. Als ein äußerer Reiz, der dieses mächtiger gewordene