Die Phantasie.
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und dadurch verändert werden, erfüllt sein kann. Im einen wie
im andern Falle handelt es sich also nicht im allergeringsten um
wirkliche Beobachtungen, sondern um logische Überlegungen und
schließlich der Hauptsache nach um Folgerungen aus willkürlich
definierten Begriffen. Nach diesen Begriffen und den aus ihrer De¬
finition gezogenen Schlüssen müssen sich die Tatsachen richten.
Wäre Wolff nicht im Zweifel gewesen, ob die Tiere überhaupt eine
Seele besitzen, so würde er ihnen wahrscheinlich Einbildungskraft,
aber kein Gedächtnis zugeschrieben haben, da er dazu ein gewisses
Maß willkürlicher Aufmerksamkeit für nötig hielt Herbert Spencer
erklärt umgekehrt, die Tiere und selbst die niederen Menschenrassen
seien nur mit »erinnernder Einbildungskraft « ausgerüstet, die kom¬
binierende Phantasie sei aber das Privilegium einer höheren Kultur.
Gleichwohl hat dieser Philosoph selbst in seiner »Soziologie« ein
reiches Material von Tatsachen gesammelt, in denen mancher andere
wahrscheinlich die Symptome einer wilden, das Entlegenste kom¬
binierenden Phantasie primitiver Völker erblicken würde1).
3. Angebliche Merkmale der Phantasie.
Ebenso mißlich wie mit den Versuchen, die Phantasie gegen die
ihr nächstverwandten psychischen Funktionen abzugrenzen, verhält
es sich mit den einzelnen Eigenschaften, die als kennzeichnend für
ihre Wirksamkeit angeführt werden. Als solche gelten namentlich
drei: die Anschaulichkeit, die Produktivität und die Spon¬
taneität. Die Gebilde der Phantasie sollen anschaulich sein, und
diese Eigenschaft soll sie vornehmlich von den Produkten des Ver¬
standes, den Begriffen, scheiden. Sie sollen ferner nicht bloße
Wiederholungen früher gehabter Anschauungen, sondern schöpferisch
sein. Und sie sollen endlich von selbst, spontan, als plötzliche, oft
unvermutete Eingebungen in die Seele treten, wieder im Unterschiede
von den planmäßig und absichtlich entstehenden Erzeugnissen des
verstandesmäßigen Denkens*).
Es läßt sich wohl nicht bestreiten, daß sich solche Eigenschaften
x) Herbert Spencer, Soziologie, deutsch von B. Vetter, I, 1877, S. 112.
2) A. Oelzelt-Newin, Über Phantasievorstellungen, 1889, S. 1 ff.