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Die Phantasie.
Fragen sind ihrer Natur nach solche der individuellen Psychologie.
Denn sie setzen Selbstbeobachtung, also experimentelle Analyse der
Bewußtseinsvorgänge voraus, ohne die keine einigermaßen sichere
Selbstbeobachtung möglich ist. Hiermit ist freilich auch schon
gesagt, daß die Antworten, die uns hier die überlieferte Psycho¬
logie bietet, mangelhaft, wenn nicht völlig unbrauchbar sind. Denn
sie stützen sich durchweg auf jene »reine Selbstbeobachtung«, die
bestenfalls einzelne Fragmente des wirklichen Geschehens und ge»
wisse resultierende Produkte desselben erhascht, in der Regel aber
aus einem Gemenge solch lückenhafter Beobachtungen mit daran
geknüpften Abstraktionen und Reflexionen besteht. Dahin gehören
vor allem schon die Unterscheidungen zwischen Phantasie und
Gedächtnis. Bei ihnen pflegen sich die Wege der älteren und der
neueren Psychologie von vornherein dadurch zu scheiden, daß
jene ihre Begriffe dem gewöhnlichen Verlaufe der Bewußtseinsvor¬
gänge zu entnehmen sucht, während diese zunächst von der künst¬
lerischen Phantasietätigkeit als der, wie man meint, klarsten und
vollkommensten Erscheinungsform ausgeht und von da aus dann
sozusagen retrospektiv die Vorstufen dieser höchsten Funktionsäuße¬
rung zu beleuchten sucht. Daraus ergibt sich dann der merkwür¬
dige Gegensatz, daß die Vermögenspsychologie Wolffs in der Phantasie
die niedrigere, in dem Gedächtnis die höhere Stufe seelischer Funk¬
tionen sah, während moderne Philosophen und Psychologen durch¬
aus geneigt sind, dieses Verhältnis umzukehren. Zuerst, so meinte
Wolff, muß die »Einbildungskraft« existieren, das Vermögen, sich
überhaupt etwas nicht Gegenwärtiges vorzustellen. Kommt dann
dazu der Wille, aus dem »Eingebildeten« auszuscheiden, was im
ursprünglichen Eindruck nicht enthalten war, so entsteht das Ge¬
dächtnis. In ähnlichem Sinne verlegte noch Kant den ursprüng¬
lichen Unterschied beider in das unwillkürliche Produzieren der
Phantasie, den willkürlichen Leistungen des Gedächtnisses gegen¬
über1 2). Indem er aber dieser ursprünglich unwillkürlichen und im
allgemeinen reproduktiven die produktive Phantasie als Dichtungs- und
Erfindungsvermögen gegenüberstellt, wendet sich seine Würdigung
x) Wolff, Vera. Gedanken von Gott, der Welt, der Seele des Mensehen usw.
2. Teil4 1740, S. 150. Kant, Anthropologie, g 27 ff.