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Die Phantasie in der Kunst
zwar das Rot nicht gänzlich verbannt, aber für den gewöhnlichen
Gebrauch zum Violett ermäßigt hat. Durch alle diese spezielleren
Motive und ihre Wandlungen hindurch bleibt jedoch das herrschende
Grundmotiv das der Geltendmachung der eigenen Persönlichkeit,
das sich dann nur jeweils gewissen Normen der Sitte oder des
Kultus unterordnet. Eben dadurch kann es nun aber auch kommen,
daß solche sekundäre soziale und religiöse Motive im Laufe der
Zeit wieder verloren gehen, und daß dann der Schmuck entweder
als unverstandener Brauch oder als kosmetisches Mittel, das der
Willkür des einzelnen überlassen ist, zurückbleibt.
Wo die Bemalung, wie dies in den meisten Fällen geschieht,
nicht ganze Körperflächen gleichmäßig trifft, sondern in einzelnen
Strichen oder bandförmigen Streifen besteht, da hat sich nun, wie
man vermuten darf, ursprünglich als ein Verfahren dauernder Fi¬
xierung die Tätowierung entwickelt Hierfür spricht besonders
noch der Umstand, daß sie gerade in ihren primitiven Formen
durchaus die einfache Bemalung zu ihrem Vorbild zu haben scheint.
Ihre ursprünglichste Form ist nämlich offenbar die der einfachen
Narbentätowierung, wie sie bei den Australiern und bei manchen
melanesischen und afrikanischen Negerstämmen geübt wird. Je
dunkelfarbiger die Haut ist, um so mehr hebt sich hier das helle
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Narbengewebe als Äquivalent einer dauernden weißen Bemalung
hervor. Bei den hellerfarbigen Stämmen, wie bei den Polynesiern
und den Völkern des amerikanischen Westens, fuhrt dann dasselbe
Prinzip des Kontrastes zu jener Kombination von Narbenbildung
und Bemalung, in der erst die eigentliche, kunstmäßige Tätowie¬
rung besteht. Auch sie zerfallt wieder in eine einfachere und in
eine verwickeltere Form: in die Schnitt- und die Stichtätowie¬
rung. Von ihnen lehnt sich die erstere unmittelbar an die einfache
Narbentätowierung an, von der sie sich nur durch die Eintragung
von Farbe in die Schnittwunden unterscheidet. Bei der Stichtäto¬
wierung, der vollendetsten, mit besonderer Virtuosität in Polynesien
geübten Methode, wird schließlich die in den vorigen Fällen nicht
zu vermeidende wulstige Narbenbildung dadurch verhütet, daß die
Linien der Zeichnungen aus einer Menge feiner Stiche zusammen¬
gesetzt sind, in die dann der Farbstoff eingetragen wird.