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Die Phantasie in der Kunst.
kunst ist aber diese Stufe nicht bloß in dem Sinne, daß sie Er¬
innerungszeichen und Denkmäler hervorbringt, die über den Augen¬
blick und seine nächste Umgebung hinausreichen, sondern auch
noch in dem andern, in welchem dieser Ausdruck für die Augen¬
blickskunst ebenfalls gilt: insofern sie nämlich ihre Objekte ganz
und gar nur aus der Erinnerung bildet Von einer Nach¬
ahmung, welche die unmittelbare Gegenwart der Objekte und die
Vergleichung mit ihnen fordert, ist auch hier noch nicht die
Rede. Ebenso steht in dieser Erinnerungskunst zunäcl# immer noch
der praktische Zweck voran: sie will die Personen oder Ereignisse
festhalten; aber sie bildet sie nur deshalb mehr oder weniger treu
nach, weil dadurch jener Zweck am sichersten erreicht wird. Die
schon in der Augenblickskunst hervorgetretenen divergierenden Ten¬
denzen wachsender Treue der Nachbildung und einer immer weiter
vom Gegenstand selbst sich entfernenden Vereinfachung setzen sich
darum auch hier fort, und jede von ihnen entwickelt sich in der
eingeschlagenen Richtung weiter. Dabei wird die Nachbildung um
so treuer und die aus der Vereinfachung entspringende Stilisierung
um so regelmäßiger, je mehr das schwierigere Material sorgfältigere
Arbeit fordert. Freilich kommt auch hier diese äußere Erschwe¬
rung nicht mit einem Male der künstlerichen Betätigung zugute,
sondern erst durch die Verkettung der Folgen, die sie mit sich
führt. Die Absicht der dauernden Erhaltung der gezeichneten Bil¬
der und Merkzeichen erheischt das festere Material, die Bearbeitung
dieses Materials die größere Mühe und Zeit, und dieses Mehr an
Mühe und Zeit überträgt sich nun auf das Streben, das Bild sorg¬
fältiger zu gestalten, so daß dieses Streben eigentlich selbst erst im
Kampfe mit dem widerstrebenden Material entsteht. Ein solches
an Dauer jedes andere überbietende Material ist vor allem der Stein.
Die Baumrinde, die leicht mit Stein oder härterem Holze geritzt
werden kann, steht noch auf der Übergangsstufe zur Augenblicks¬
kunst. Der Knochen und das Horn der Tiere gehören, da sie nur
kleinere Flächen zur Bearbeitung bieten, bereits zu den frühesten
Objekten der Zierkunst, bei denen der Zweck, der Erinnerung zu
dienen, zurücktritt. Das gleiche gilt von den Metallen, die später
Knochen und Horn zum großen Teil abiösen, sowie nicht minder
von dem Ton, der in den aus ihm hergestellten Gefäßen, dann aber