1. Der Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit
429
§ 22. Begriff und Regeln
der mathematischen Wahrscheinlichkeit
1. Der Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit
Warum es unumgänglich nötig ist, an dieser Stelle unserer Aus¬
führungen in die scheinbar den Mathematikern, Physikern und
Statistikern vorbehaltene Theorie der mathematischen Wahr¬
scheinlichkeit einzutreten und das Prinzipielle daran so ausführlich
zu erörtern, wie es jetzt geschehen soll, wird aus der darauffolgenden
Theorie der Induktion erhellen. Es liegt hier der Angelpunkt des
großen Streites zwischen Empirismus und Rationalismus. Aber
auch abgesehen davon läßt sich nicht verkennen, daß die meisten
unserer Erkenntnisse nur auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machen
können und daß es von Vorteil sein muß, sich zu vergegenwärtigen,
wie und auf welchem Wege es gelingen kann, die Grade der W1 für
wissenschaftliche Zwecke exakter als es im gewöhnlichen Leben
geschieht zu bestimmen.
Daher hat Laplace, von dem die neuere Bewegung in dieser
Richtung den Hauptanstoß erhielt, das Schriftchen, worin er 1814
in formvollendeter Darstellung die allgemeinsten Prinzipien und
Betrachtungsweisen der mathematischen W-Lehre vortrug, mit
Recht als ,,Essai philosophique sur les probabilités“ bezeichnet2.
In Frankreich, das (durch Pascal und Fermat) die Geburtsstätte der
W-Rechnung war, wurde aber auch schon vor Laplace von Condor¬
cet, D’Alembert, Buffon, nach ihm von Lacroix, Cournot, Poisson
und später besonders von Poincaré die erkenntnistheoretische Be¬
deutung dieses Zweiges betont. In England haben unter den Mathe¬
matikern De Morgan (1847) und G. Boole (1854), unter den Philo¬
sophen J. St. Mill (1843), John Venn (1866), Stanley Jevons (1874)
und neuerdings Keynes (1920) die mathematische W-Lehre für die
Logik verwendet. In Deutschland hatte sich selbstverständlich
Leibniz, dann unter seinem Einflüsse Wolf und Mendelssohn dafür
interessiert. Während der für solche Untersuchungen wenig
1 Für W ist hier und im folgenden „Wahrscheinlichkeit“ oder „Wahr-
scheinlichkeits“ zu lesen.
2 Der Essai -wurde von Laplace auch der zweiten Auflage seiner großen
„Théorie analytique des probabilités“ als Einleitung vorangestellt. Ins
Deutsche wurde er 1819 von Tönnies, 1886 (auf Anregung Brentanos) in ver¬
besserter Form von Schwaiger übersetzt. Unsere Zitate beziehen sich auf
die 4. französische Auflage 1819. (In Ostwalds Klassikern, Bd. 233, wurde
er 1932 durch v. Mises deutsch herausgegeben.)