528 § 23. Hauptsätze der mathematischen Wahrscheinlichkeitslehre
Daß die bisher beobachteten Verteilungsweisen der einem
Kollektiv zugehörigen Ereignisse auch bei weiterer Fortsetzung
der Beobachtungen sich nicht wesentlich ändern, sondern nur
immer genauer bestimmten Grenzwerten nähern werden, bezeichnet
v. Mises als ein Axiom1. Er gebraucht diesen Ausdruck offenbar
nicht im Sinne der alten Logik zur Bezeichnung absolut sicherer
apriorischer Urteile, sondern nach der Gewohnheit der heutigen
Geometer im Sinne von Grundhypothesen. Nun ist zwar tatsäch¬
lich ein solches zukünftiges Verhalten der empirischen Häufig¬
keitswerte nichts weniger als sicher, hat vielmehr in den einzelnen
Fällen die verschiedensten Grade der Wahrscheinlichkeit (das
Wort hier im populären, nicht mathematischen Sinne verstanden,
sonst wäre ja ein Zirkel unvermeidlich). Ob z. B. die Häufigkeits-
Ziffer für männliche Geburten oder die Sterbeziffer für männliche
Individuen im 41. Lebensjahre in Deutschland auf lange Zeit
hinaus unverändert bleiben, dies hängt ab vom Gleichbleiben
äußerer, nicht hinreichend bekannter Umstände. Wir müssen es
nach v. Mises nur voraussetzen, um überhaupt mit den be¬
obachteten Häufigkeitswerten praktisch z. B. im Versicherungs¬
wesen operieren zu können. Darum wird die Reihe so, wie sie
bisher verlaufen ist, mit den nämlichen HäufigkeitsVerhältnissen
der betreffenden Ereignisse, als prinzipiell unendlich angesehen.
Dies ist gewissermaßen eine notwendige Fiktion, ohne welche
die Wahrscheinlichkeit nach v. Mises gar nicht zu definieren wäre.
Wie sich von da aus das Bernoulli-Poissonsche Gesetz und die Bayes -
Laplacesche Ursachenregel dar stellen, können wir hier nicht näher erläutern.
Ihre Fassung weicht stark von der bisherigen ab. Das Wesentlichste faßt
v. Mises (a. a. O., S. 99—100) selbst so zusammen:
„Es sei in n Versuchen mit einem Würfel n1-mal die Sechs ge¬
fallen. Dann besagt :
1. das erste Axiom bzw. unsere Definition der Wahrschein¬
lichkeit, daß bei unbegrenzter Vergrößerung der Versuchszahl der
Quotient nj.-n sich einem festen Grenzwert nähert, der eben die
Wahrscheinlichkeit eines ,,Sechser“-Wurfes mit dem betreffenden
Würfel heißt;
2. das erste Gesetz der großen Zahlen oder Bernoulli-
Poissonsche Theorem, daß, wenn wir die Versuchsreihe vom festen
Umfang n mit demselben Würfel unbeschränkt oft wiederholen,
falls nur n nicht zu klein ist, bei fast allen Versuchsreihen an¬
nähernd der gleiche Quotient njin erscheinen wird;
3. das zweite Gesetz der großen Zahlen oder Bayessche
Theorem, daß unter sehr vielen verschiedenen Würfeln, von denen
1 S. 99ff. der S. 526 zuerst genannten Schrift.