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IX. Kapitel.
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Pseudo-Sollen ist, mit Kant ein heteronomes. Vom vorhin er¬
wähnten unterscheidet es sich dadurch, dass es kein hypothetisches
Sollen ist. Aber es ist auch noch ein bedingtes Sollen. Dass ich
den Gegenstand erstrebe, ist nicht — vermöge des fremden Wunsches
oder Gebotes — „recht“; denn dies Messe, das Streben sei als
dieses Streben, also durch seinen Gegenstand gefordert.
Es würde gleichfalls „recht“, wenn sein Grund, der Wunsch oder
das Gebot des Anderen, „recht“ wäre. Aber davon reden wir
nicht. Wir nehmen diesen Wunsch oder dies Gebot nur als ein¬
fache Thatsache.
Wie man sieht, steht die Objektivität des Strebens, von der
wir hier reden, auf gleicher Stufe wie die perceptive Gebundenheit,
die ich erlebe angesichts der durch Mitteilung in mir entstandenen
Vorstellung. Auch diese Vorstellung wird mir einerseits auf-
genötigt; andererseits fühle ich doch die Nötigung ausgehend
von einem „Gegenstände“, nämlich wiederum einem anderen
Individuum. Diese eigentümliche Verbindung der Passivität und
Objektivität wollte ich damals durch den besonderen Namen der
perceptiven „Gebundenheit“ zum Ausdruck bringen. Sowenig
diese perceptive Gebundenheit gleichbedeutend ist mit „gegen¬
ständlicher Objektivität“, sowenig ist die „Gebundenheit“ des
Strebens oder Wollens, von der ich hier rede, wahre Objektivität
meines Strebens oder Wollens.
Von dieser zweiten Möglichkeit des Sollens ist nun charakte¬
ristisch verschieden die dritte. Diese besteht darin, dass ein
eigenes früheres Wollen in meine gegenwärtige Persönlichkeit
fordernd hineinragt. Dies Sollen ist ein wirkliches Sollen: Ich
soll etwa bei meinem Entschlüsse bleiben, soll mein Versprechen
halten etc. Wie dies Bewnsstseinserlebnis möglich ist, haben wir
gesehen. Der Gegenstand, der hier die Forderung stellt, ist die
von meiner gegenwärtigen Persönlichkeit unabhängige, nicht mehr
aus der Welt zu schaffende Thatsache meines ehemaligen Ent¬
schlusses oder Versprechens. Dies Sollen oder diese Forderung
ist autonom: Die Forderung stammt aus mir. Aber sie ist
gleichfalls noch eine bedingte Forderung, und eben damit nicht
eigentlich eine Forderung des erstrebten Gegenstandes. Die frag¬
liche Forderung kann aufgehoben werden. Und dies ist, wenn