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Die Umwertung der Musik.
nur dann als beachtenswert festhalt en, wenn ihr gewisse
Gefühlswerte schon zukommen. Der Zusammenhang zwischen
Musik und Gefühlen, dessen Entstehung wir erklären wollen,
scheintalso der Erfindung schon vor aus geh en zu müssen. In¬
dessen ist doch der Vorgang der Produktion, namentlich bei den
großen Tondichtern, sicher ein anderer. Er besteht darin,
daß die herkömmlichen und bekannten Formen dem Künstler
nicht genügen, daß sie ihm für das, was sein Gemüt bewegt,
als kein angemessener, kein befriedigender Ausdruck er¬
scheinen, daß er neue, diese Ansprüche erfüllende Gebilde
in angestrengter und ausdauernder Bemühung sucht, bis
er das ihm Genügende gefunden, richtiger gesagt, bis er es
ip wiederholter Umgestaltung erzeugt und erschaffen hat.
So schreitet denn nie Entwicklung und Bereicherung der
der Musik eigenen Gefühlsverknüpfungen in untrennbarem
Zusammenhänge mit der musikalischen Erfindung fort. Die
„Umwertung“ vollzieht sich zunächst in der Seele des schaf¬
fenden Künstlers. Das produktive Schaffen erscheint recht
eigentlich als das Vehikel, von dem die Wandlungen des
musikalischen Geschmackes getragen werden. —Es erklärt sich
aber hieiaus auch, daß die Umwertung ganz vorzugsweise
in der Erzeugung neuer Gebilde besteht, welche als musi¬
kalisch wohlgefällig empfunden werden. Der Kreis des musi¬
kalisch Schönen erfährt eine fortdauernde Erweiterung.
Aber die Wandlung beschränkt sich nicht hierauf. Sie be¬
steht nicht nur darin, daß bestimmte Gefühlserfolge an
andere musikalische Gebilde als vordem geknüpft werden.
Neue seelische Erregungen, in denen die reine* musikalische
Schönheit mit schönheitsfremden Gefühlen in einer vordem
nicht bekannten Weise vereinigt sind, suchen und finden
ihren Ausdruck. Man könnte vielleicht behaupten, daß
Gefühle von der Tiefe und Mannigfaltigkeit der anklingenden
Emotionen, von der eigenartigen Färbung der musikalischen
Schönheit, wie sie z. B. Beethoven und Brahms zuerst
selbst empfunden, dann durch ihre Kompositionen in vielen
anderen erregt haben, niemals zuvor von irgend jemand erlebt